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Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874.

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Göttern streiften sie daher die grellen und wunderlichen Merkmale, auf die wir anderwärts stossen, frühzeitig ab; ebenso die barbarischen und ungeheuerlichen Träumereien von dem geistigen Wesen derselben. Denn die Mythologie der Griechen, wie Schelling mit Recht bemerkt hat, bildet "das Ende" eines langen Prozesses, in welchem die Mythologie entstanden ist. Wir dürfen hinzusetzen, dass die vorzüglichen Denker unter den Hellenen, ehe die Glanzepoche dieses Volks abgelaufen war, durch Tiefsinn und Scharfblick über die von ihren Vorgeschlechtern geglaubten Göttergestalten selbst, also über den mythologischen Prozess hinausgetreten sind. Die Philosophie derselben lehrte sie den Lichtstrahl einer andern Weltordnung, sie wurde die Mutter der neueren Philosophie.

Wohin wir auch blicken, in allen Hauptmythologien finden wir ein Götterreich, mit einem Oberhaupt, welches das Regiment vorzugsweise führt. Die Familienordnung auf Erden wurde, wie oben gesagt, auf die Einrichtung des himmlischen Hofes angewandt, am genauesten in den grossen Systemen der Griechen, Römer und Germanen; die Götter zeigten dieselben Vorzüge und Mängel wie die Menschen. Dem Befehle eines obersten Weltgebieters mussten sämmtliche andere Mitgötter sich fügen, von denen ein jeder zwar eine eigene abgegrenzte Machtsphäre hatte, worin er selbstständig wirken konnte, aber nicht unabhängig hingestellt war; denn auch in diese besonderen Sphären durfte der Oberherr eingreifen, so oft es ihm beliebte, während er wiederum an sie einzelne seiner Machtbefugnisse zeitweilig überlassen konnte. Wie der Hauptgott fast immer vermählt zu sein pflegte, so gab es auch unter den Nebengöttern Gemahlinnen, Söhne, Töchter, ehelose und verehlichte Männer, auch Jungfrauen, die jeden Liebesbund von sich ausschlossen. Noch mehr; der Hauptgott galt hier und da für den Schöpfer alles dessen, was ausser ihm lebte; man führte die Abstammung sämmtlicher Götter auf ihn zurück, wie auch die Erschaffung der sterblichen Wesen, wesshalb er der Vater der Götter und Menschen hiess, so namentlich Zeus bei den Griechen, Odin bei den alten Germanen. Ausserdem reihten sich an die mächtigeren Gottheiten geringere Götterwesen an, die allerlei Verpflichtungen hatten, ferner zahllose Meergötter, Flussgötter, Berggötter, Flurgötter, zahllose sogenannte Nymphen, Göttinnen der Quellen und Bäume, Hausgötter, Genien. Man glaubte die Natur in allen ihren Erscheinungen und Organismen von höheren Wesen erfüllt und belebt.

Ebenso knüpfte man die Fortdauer nach dem Tode, wo sie nicht im Himmel sein sollte, an eine von Göttern und Göttinnen beherrschte Unterwelt an, die ebenfalls ein selbstständiges, doch von dem obersten Gott des Lichtes nicht immer unabhängiges Haupt hatte. Im Uebrigen vermöchte man schwerlich die ausserirdischen Gestalten zu zählen, die nach dem Traum der verschiedenen Mythologien eine Existenz haben sollten, die theils von ewiger, theils von beschränkter Dauer war. Wer ferner könnte die Dämonen zählen, die überall auftauchen, und die Heroen, die bald von Vatersseite, bald von Mutterseite göttlichen Ursprungs waren und durch Thaten auf der Erde als Halbgötter in das Reich des Himmels sich emporrangen?

Göttern streiften sie daher die grellen und wunderlichen Merkmale, auf die wir anderwärts stossen, frühzeitig ab; ebenso die barbarischen und ungeheuerlichen Träumereien von dem geistigen Wesen derselben. Denn die Mythologie der Griechen, wie Schelling mit Recht bemerkt hat, bildet »das Ende« eines langen Prozesses, in welchem die Mythologie entstanden ist. Wir dürfen hinzusetzen, dass die vorzüglichen Denker unter den Hellenen, ehe die Glanzepoche dieses Volks abgelaufen war, durch Tiefsinn und Scharfblick über die von ihren Vorgeschlechtern geglaubten Göttergestalten selbst, also über den mythologischen Prozess hinausgetreten sind. Die Philosophie derselben lehrte sie den Lichtstrahl einer andern Weltordnung, sie wurde die Mutter der neueren Philosophie.

Wohin wir auch blicken, in allen Hauptmythologien finden wir ein Götterreich, mit einem Oberhaupt, welches das Regiment vorzugsweise führt. Die Familienordnung auf Erden wurde, wie oben gesagt, auf die Einrichtung des himmlischen Hofes angewandt, am genauesten in den grossen Systemen der Griechen, Römer und Germanen; die Götter zeigten dieselben Vorzüge und Mängel wie die Menschen. Dem Befehle eines obersten Weltgebieters mussten sämmtliche andere Mitgötter sich fügen, von denen ein jeder zwar eine eigene abgegrenzte Machtsphäre hatte, worin er selbstständig wirken konnte, aber nicht unabhängig hingestellt war; denn auch in diese besonderen Sphären durfte der Oberherr eingreifen, so oft es ihm beliebte, während er wiederum an sie einzelne seiner Machtbefugnisse zeitweilig überlassen konnte. Wie der Hauptgott fast immer vermählt zu sein pflegte, so gab es auch unter den Nebengöttern Gemahlinnen, Söhne, Töchter, ehelose und verehlichte Männer, auch Jungfrauen, die jeden Liebesbund von sich ausschlossen. Noch mehr; der Hauptgott galt hier und da für den Schöpfer alles dessen, was ausser ihm lebte; man führte die Abstammung sämmtlicher Götter auf ihn zurück, wie auch die Erschaffung der sterblichen Wesen, wesshalb er der Vater der Götter und Menschen hiess, so namentlich Zeus bei den Griechen, Odin bei den alten Germanen. Ausserdem reihten sich an die mächtigeren Gottheiten geringere Götterwesen an, die allerlei Verpflichtungen hatten, ferner zahllose Meergötter, Flussgötter, Berggötter, Flurgötter, zahllose sogenannte Nymphen, Göttinnen der Quellen und Bäume, Hausgötter, Genien. Man glaubte die Natur in allen ihren Erscheinungen und Organismen von höheren Wesen erfüllt und belebt.

Ebenso knüpfte man die Fortdauer nach dem Tode, wo sie nicht im Himmel sein sollte, an eine von Göttern und Göttinnen beherrschte Unterwelt an, die ebenfalls ein selbstständiges, doch von dem obersten Gott des Lichtes nicht immer unabhängiges Haupt hatte. Im Uebrigen vermöchte man schwerlich die ausserirdischen Gestalten zu zählen, die nach dem Traum der verschiedenen Mythologien eine Existenz haben sollten, die theils von ewiger, theils von beschränkter Dauer war. Wer ferner könnte die Dämonen zählen, die überall auftauchen, und die Heroen, die bald von Vatersseite, bald von Mutterseite göttlichen Ursprungs waren und durch Thaten auf der Erde als Halbgötter in das Reich des Himmels sich emporrangen?

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Göttern streiften sie daher die grellen und wunderlichen Merkmale, auf die wir anderwärts stossen, frühzeitig ab; ebenso die barbarischen und ungeheuerlichen Träumereien von dem geistigen Wesen derselben. Denn die Mythologie der Griechen, wie Schelling mit Recht bemerkt hat, bildet »das Ende« eines langen Prozesses, in welchem die Mythologie entstanden ist. Wir dürfen hinzusetzen, dass die vorzüglichen Denker unter den Hellenen, ehe die Glanzepoche dieses Volks abgelaufen war, durch Tiefsinn und Scharfblick über die von ihren Vorgeschlechtern geglaubten Göttergestalten selbst, also über den mythologischen Prozess hinausgetreten sind. Die Philosophie derselben lehrte sie den Lichtstrahl einer andern Weltordnung, sie wurde die Mutter der neueren Philosophie.</p><lb/>
          <p>Wohin wir auch blicken, in allen Hauptmythologien finden wir ein Götterreich, mit einem Oberhaupt, welches das Regiment vorzugsweise führt. Die Familienordnung auf Erden wurde, wie oben gesagt, auf die Einrichtung des himmlischen Hofes angewandt, am genauesten in den grossen Systemen der Griechen, Römer und Germanen; die Götter zeigten dieselben Vorzüge und Mängel wie die Menschen. Dem Befehle eines obersten Weltgebieters mussten sämmtliche andere Mitgötter sich fügen, von denen ein jeder zwar eine eigene abgegrenzte Machtsphäre hatte, worin er selbstständig wirken konnte, aber nicht unabhängig hingestellt war; denn auch in diese besonderen Sphären durfte der Oberherr eingreifen, so oft es ihm beliebte, während er wiederum an sie einzelne seiner Machtbefugnisse zeitweilig überlassen konnte. Wie der Hauptgott fast immer vermählt zu sein pflegte, so gab es auch unter den Nebengöttern Gemahlinnen, Söhne, Töchter, ehelose und verehlichte Männer, auch Jungfrauen, die jeden Liebesbund von sich ausschlossen. Noch mehr; der Hauptgott galt hier und da für den Schöpfer alles dessen, was ausser ihm lebte; man führte die Abstammung sämmtlicher Götter auf ihn zurück, wie auch die Erschaffung der sterblichen Wesen, wesshalb er der <hi rendition="#g">Vater</hi> der Götter und Menschen hiess, so namentlich <hi rendition="#g">Zeus</hi> bei den Griechen, <hi rendition="#g">Odin</hi> bei den alten Germanen. Ausserdem reihten sich an die mächtigeren Gottheiten geringere Götterwesen an, die allerlei Verpflichtungen hatten, ferner zahllose Meergötter, Flussgötter, Berggötter, Flurgötter, zahllose sogenannte Nymphen, Göttinnen der Quellen und Bäume, Hausgötter, Genien. Man glaubte die Natur in allen ihren Erscheinungen und Organismen von höheren Wesen erfüllt und belebt.</p><lb/>
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[XXXIX/0039] Göttern streiften sie daher die grellen und wunderlichen Merkmale, auf die wir anderwärts stossen, frühzeitig ab; ebenso die barbarischen und ungeheuerlichen Träumereien von dem geistigen Wesen derselben. Denn die Mythologie der Griechen, wie Schelling mit Recht bemerkt hat, bildet »das Ende« eines langen Prozesses, in welchem die Mythologie entstanden ist. Wir dürfen hinzusetzen, dass die vorzüglichen Denker unter den Hellenen, ehe die Glanzepoche dieses Volks abgelaufen war, durch Tiefsinn und Scharfblick über die von ihren Vorgeschlechtern geglaubten Göttergestalten selbst, also über den mythologischen Prozess hinausgetreten sind. Die Philosophie derselben lehrte sie den Lichtstrahl einer andern Weltordnung, sie wurde die Mutter der neueren Philosophie. Wohin wir auch blicken, in allen Hauptmythologien finden wir ein Götterreich, mit einem Oberhaupt, welches das Regiment vorzugsweise führt. Die Familienordnung auf Erden wurde, wie oben gesagt, auf die Einrichtung des himmlischen Hofes angewandt, am genauesten in den grossen Systemen der Griechen, Römer und Germanen; die Götter zeigten dieselben Vorzüge und Mängel wie die Menschen. Dem Befehle eines obersten Weltgebieters mussten sämmtliche andere Mitgötter sich fügen, von denen ein jeder zwar eine eigene abgegrenzte Machtsphäre hatte, worin er selbstständig wirken konnte, aber nicht unabhängig hingestellt war; denn auch in diese besonderen Sphären durfte der Oberherr eingreifen, so oft es ihm beliebte, während er wiederum an sie einzelne seiner Machtbefugnisse zeitweilig überlassen konnte. Wie der Hauptgott fast immer vermählt zu sein pflegte, so gab es auch unter den Nebengöttern Gemahlinnen, Söhne, Töchter, ehelose und verehlichte Männer, auch Jungfrauen, die jeden Liebesbund von sich ausschlossen. Noch mehr; der Hauptgott galt hier und da für den Schöpfer alles dessen, was ausser ihm lebte; man führte die Abstammung sämmtlicher Götter auf ihn zurück, wie auch die Erschaffung der sterblichen Wesen, wesshalb er der Vater der Götter und Menschen hiess, so namentlich Zeus bei den Griechen, Odin bei den alten Germanen. Ausserdem reihten sich an die mächtigeren Gottheiten geringere Götterwesen an, die allerlei Verpflichtungen hatten, ferner zahllose Meergötter, Flussgötter, Berggötter, Flurgötter, zahllose sogenannte Nymphen, Göttinnen der Quellen und Bäume, Hausgötter, Genien. Man glaubte die Natur in allen ihren Erscheinungen und Organismen von höheren Wesen erfüllt und belebt. Ebenso knüpfte man die Fortdauer nach dem Tode, wo sie nicht im Himmel sein sollte, an eine von Göttern und Göttinnen beherrschte Unterwelt an, die ebenfalls ein selbstständiges, doch von dem obersten Gott des Lichtes nicht immer unabhängiges Haupt hatte. Im Uebrigen vermöchte man schwerlich die ausserirdischen Gestalten zu zählen, die nach dem Traum der verschiedenen Mythologien eine Existenz haben sollten, die theils von ewiger, theils von beschränkter Dauer war. Wer ferner könnte die Dämonen zählen, die überall auftauchen, und die Heroen, die bald von Vatersseite, bald von Mutterseite göttlichen Ursprungs waren und durch Thaten auf der Erde als Halbgötter in das Reich des Himmels sich emporrangen?

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Zitationshilfe: Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874, S. XXXIX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vollmer_mythologie_1874/39>, abgerufen am 29.05.2024.