Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_317.001 pwa_317.012 pwa_317.028 pwa_317.038 pwa_317.001 pwa_317.012 pwa_317.028 pwa_317.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0335" n="317"/><lb n="pwa_317.001"/> nach ist, je mehr also die stilistischen Aeusserungen der Subjectivität <lb n="pwa_317.002"/> in den Hintergrund gerückt werden. Man kann z. B. nicht sagen, <lb n="pwa_317.003"/> es gehöre ein stumpfes Auge dazu, um in der Iliade und im Nibelungenlied <lb n="pwa_317.004"/> nicht zu erkennen, dass diese Dichtungen von einer Mehrheit <lb n="pwa_317.005"/> verschiedener, auch stilistisch verschiedener Verfasser herrühren; <lb n="pwa_317.006"/> denn die einzelnen Verfasser waren alle so gute, d. h. so objective <lb n="pwa_317.007"/> Epiker, dass die subjective Seite ihres Stils sich einem gewöhnlichen <lb n="pwa_317.008"/> Blicke allerdings verbergen muss. Aber wohl kann man und muss man <lb n="pwa_317.009"/> das scharfe Auge Wolfs und Lachmanns rühmen, dass sie trotz dem die <lb n="pwa_317.010"/> stilistischen Subjectivitäten herausgefunden und auch daraus die ursprüngliche <lb n="pwa_317.011"/> Vielgliedrigkeit dieser Heldengedichte erkannt und bewiesen haben.</p> <p><lb n="pwa_317.012"/> In dieser Weise ist das Subjective im Stil Gegenstand der Kritik <lb n="pwa_317.013"/> einzelner Schriften und Schriftsteller: die Stilistik aber kann sich <lb n="pwa_317.014"/> natürlich nicht darauf einlassen: ihre Sache ist das Auffinden und <lb n="pwa_317.015"/> Erörtern allgemeiner Gesetze, derjenigen Gesetze, denen die sprachliche <lb n="pwa_317.016"/> Darstellung nicht bloss eines Schriftstellers, ja nicht einmal bloss <lb n="pwa_317.017"/> eines Volkes und eines Zeitalters, sondern aller Schriftsteller aller Völker <lb n="pwa_317.018"/> und Zeiten unterliegt: diese allgemeinen Gesetze aber liegen auf <lb n="pwa_317.019"/> der objectiven Seite, liegen da, wo der Stil nicht durch die wechselnde <lb n="pwa_317.020"/> geistige Persönlichkeit des einzelnen Darstellenden, sondern durch <lb n="pwa_317.021"/> etwas überall Gleichartiges, durch Inhalt und Zweck des Dargestellten <lb n="pwa_317.022"/> bedingt ist; sie beziehen sich auf die Wirkung von Motiven, die jeder <lb n="pwa_317.023"/> Einzelne mit allen übrigen theilt. Wir werden mithin im weiteren <lb n="pwa_317.024"/> Verlaufe unsrer Betrachtung immer nur gelegentlich auf diese oder <lb n="pwa_317.025"/> jene stilistische Subjectivität zu sprechen kommen, eigentlich aber <lb n="pwa_317.026"/> und im Wesentlichen kann immer nur das Objective am Stil der Gegenstand <lb n="pwa_317.027"/> unsrer Besprechungen sein.</p> <p><lb n="pwa_317.028"/> Um aber gleich hier einige neue Seitenblicke solcher Art zu <lb n="pwa_317.029"/> eröffnen, mag es gestattet sein, aus Jean Pauls Vorschule der Aesthetik <lb n="pwa_317.030"/> (2. Aufl. S. 601) einen Abschnitt (§ 76) hervorzuheben, wo er den individuellen <lb n="pwa_317.031"/> Stil einer Reihe von Schriftstellern selbst wieder in seinem individuellen <lb n="pwa_317.032"/> Stil kurz characterisiert; es mag diess als Muster dienen, wie <lb n="pwa_317.033"/> man dergleichen anzufassen habe. Cicero hat in seiner Schrift de oratore <lb n="pwa_317.034"/> eben eine solche Stelle (3, 7–9), eine Characteristik griechischer <lb n="pwa_317.035"/> und römischer Redner und seiner selbst: sicherlich kühler und verständiger <lb n="pwa_317.036"/> als Jean Paul; ob aber in so treffender Anschaulichkeit wie <lb n="pwa_317.037"/> Jean Paul, dürfte man billig bezweifeln.</p> <p><lb n="pwa_317.038"/> Auf der objectiven Seite betrachtet, auf derjenigen, die uns von <lb n="pwa_317.039"/> nun an allein noch berührt, ist also der Stil, ist die Art und Weise <lb n="pwa_317.040"/> der sprachlichen Darstellung bedingt durch Inhalt und Zweck des <lb n="pwa_317.041"/> Dargestellten. Inhalt und Zweck können aber verschiedenartig sein, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [317/0335]
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nach ist, je mehr also die stilistischen Aeusserungen der Subjectivität pwa_317.002
in den Hintergrund gerückt werden. Man kann z. B. nicht sagen, pwa_317.003
es gehöre ein stumpfes Auge dazu, um in der Iliade und im Nibelungenlied pwa_317.004
nicht zu erkennen, dass diese Dichtungen von einer Mehrheit pwa_317.005
verschiedener, auch stilistisch verschiedener Verfasser herrühren; pwa_317.006
denn die einzelnen Verfasser waren alle so gute, d. h. so objective pwa_317.007
Epiker, dass die subjective Seite ihres Stils sich einem gewöhnlichen pwa_317.008
Blicke allerdings verbergen muss. Aber wohl kann man und muss man pwa_317.009
das scharfe Auge Wolfs und Lachmanns rühmen, dass sie trotz dem die pwa_317.010
stilistischen Subjectivitäten herausgefunden und auch daraus die ursprüngliche pwa_317.011
Vielgliedrigkeit dieser Heldengedichte erkannt und bewiesen haben.
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In dieser Weise ist das Subjective im Stil Gegenstand der Kritik pwa_317.013
einzelner Schriften und Schriftsteller: die Stilistik aber kann sich pwa_317.014
natürlich nicht darauf einlassen: ihre Sache ist das Auffinden und pwa_317.015
Erörtern allgemeiner Gesetze, derjenigen Gesetze, denen die sprachliche pwa_317.016
Darstellung nicht bloss eines Schriftstellers, ja nicht einmal bloss pwa_317.017
eines Volkes und eines Zeitalters, sondern aller Schriftsteller aller Völker pwa_317.018
und Zeiten unterliegt: diese allgemeinen Gesetze aber liegen auf pwa_317.019
der objectiven Seite, liegen da, wo der Stil nicht durch die wechselnde pwa_317.020
geistige Persönlichkeit des einzelnen Darstellenden, sondern durch pwa_317.021
etwas überall Gleichartiges, durch Inhalt und Zweck des Dargestellten pwa_317.022
bedingt ist; sie beziehen sich auf die Wirkung von Motiven, die jeder pwa_317.023
Einzelne mit allen übrigen theilt. Wir werden mithin im weiteren pwa_317.024
Verlaufe unsrer Betrachtung immer nur gelegentlich auf diese oder pwa_317.025
jene stilistische Subjectivität zu sprechen kommen, eigentlich aber pwa_317.026
und im Wesentlichen kann immer nur das Objective am Stil der Gegenstand pwa_317.027
unsrer Besprechungen sein.
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Um aber gleich hier einige neue Seitenblicke solcher Art zu pwa_317.029
eröffnen, mag es gestattet sein, aus Jean Pauls Vorschule der Aesthetik pwa_317.030
(2. Aufl. S. 601) einen Abschnitt (§ 76) hervorzuheben, wo er den individuellen pwa_317.031
Stil einer Reihe von Schriftstellern selbst wieder in seinem individuellen pwa_317.032
Stil kurz characterisiert; es mag diess als Muster dienen, wie pwa_317.033
man dergleichen anzufassen habe. Cicero hat in seiner Schrift de oratore pwa_317.034
eben eine solche Stelle (3, 7–9), eine Characteristik griechischer pwa_317.035
und römischer Redner und seiner selbst: sicherlich kühler und verständiger pwa_317.036
als Jean Paul; ob aber in so treffender Anschaulichkeit wie pwa_317.037
Jean Paul, dürfte man billig bezweifeln.
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Auf der objectiven Seite betrachtet, auf derjenigen, die uns von pwa_317.039
nun an allein noch berührt, ist also der Stil, ist die Art und Weise pwa_317.040
der sprachlichen Darstellung bedingt durch Inhalt und Zweck des pwa_317.041
Dargestellten. Inhalt und Zweck können aber verschiedenartig sein,
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