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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

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fühlte; in dem Grade, als er sich, seinen eignen unent¬
stellten Leib, sein eigenes, rein menschliches Vermögen, sich
zum Stoff und Gegenstande künstlerischer Behandlung er¬
hob, vermochte er aber auch seine Götter in freiester, un¬
entstelltester menschlicher Gestalt, im Abbilde sich darzustellen,
bis dahin, wo er endlich unumwunden, diese schöne
menschliche Gestalt selbst als eben nur menschliche Gestalt
zu seiner äußersten Befriedigung sich vorführte.

Wir berühren hier den ungemein wichtigen Scheide¬
punkt, an welchem das lebendige menschliche Kunstwerk sich
zersplitterte, um in der Plastik mit monumentaler Be¬
wegungslosigkeit, wie versteinert, künstlich fortzuleben. Die
Erörterung dieses Punktes mußte für die Darstellung
der Bildhauerkunst aufgehoben bleiben. --

Die erste und älteste Gemeinschaftlichkeit der Menschen
war das Werk der Natur. Die rein geschlechtliche Genossen¬
schaft d. h. der Inbegriff aller Derer, die von einem ge¬
meinschaftlichen Stammvater und der von ihm ausge¬
gangenen Leibessprossen sich ableiteten, ist das ursprüng¬
liche Vereinigungsband aller in der Geschichte uns vor¬
kommenden Stämme und Völker. In den Ueberlieferungen
der Sage bewahrt dieser geschlechtliche Stamm wie in immer
lebhafter Erinnerung, das unwillkürliche Wissen von seiner
gemeinschaftlichen Herkunft: die Eindrücke der besonders
gearteten Natur, die ihn umgiebt, erheben diese sagenhaften

fühlte; in dem Grade, als er ſich, ſeinen eignen unent¬
ſtellten Leib, ſein eigenes, rein menſchliches Vermögen, ſich
zum Stoff und Gegenſtande künſtleriſcher Behandlung er¬
hob, vermochte er aber auch ſeine Götter in freieſter, un¬
entſtellteſter menſchlicher Geſtalt, im Abbilde ſich darzuſtellen,
bis dahin, wo er endlich unumwunden, dieſe ſchöne
menſchliche Geſtalt ſelbſt als eben nur menſchliche Geſtalt
zu ſeiner äußerſten Befriedigung ſich vorführte.

Wir berühren hier den ungemein wichtigen Scheide¬
punkt, an welchem das lebendige menſchliche Kunſtwerk ſich
zerſplitterte, um in der Plaſtik mit monumentaler Be¬
wegungsloſigkeit, wie verſteinert, künſtlich fortzuleben. Die
Erörterung dieſes Punktes mußte für die Darſtellung
der Bildhauerkunſt aufgehoben bleiben. —

Die erſte und älteſte Gemeinſchaftlichkeit der Menſchen
war das Werk der Natur. Die rein geſchlechtliche Genoſſen¬
ſchaft d. h. der Inbegriff aller Derer, die von einem ge¬
meinſchaftlichen Stammvater und der von ihm ausge¬
gangenen Leibesſproſſen ſich ableiteten, iſt das urſprüng¬
liche Vereinigungsband aller in der Geſchichte uns vor¬
kommenden Stämme und Völker. In den Ueberlieferungen
der Sage bewahrt dieſer geſchlechtliche Stamm wie in immer
lebhafter Erinnerung, das unwillkürliche Wiſſen von ſeiner
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[153/0169] fühlte; in dem Grade, als er ſich, ſeinen eignen unent¬ ſtellten Leib, ſein eigenes, rein menſchliches Vermögen, ſich zum Stoff und Gegenſtande künſtleriſcher Behandlung er¬ hob, vermochte er aber auch ſeine Götter in freieſter, un¬ entſtellteſter menſchlicher Geſtalt, im Abbilde ſich darzuſtellen, bis dahin, wo er endlich unumwunden, dieſe ſchöne menſchliche Geſtalt ſelbſt als eben nur menſchliche Geſtalt zu ſeiner äußerſten Befriedigung ſich vorführte. Wir berühren hier den ungemein wichtigen Scheide¬ punkt, an welchem das lebendige menſchliche Kunſtwerk ſich zerſplitterte, um in der Plaſtik mit monumentaler Be¬ wegungsloſigkeit, wie verſteinert, künſtlich fortzuleben. Die Erörterung dieſes Punktes mußte für die Darſtellung der Bildhauerkunſt aufgehoben bleiben. — Die erſte und älteſte Gemeinſchaftlichkeit der Menſchen war das Werk der Natur. Die rein geſchlechtliche Genoſſen¬ ſchaft d. h. der Inbegriff aller Derer, die von einem ge¬ meinſchaftlichen Stammvater und der von ihm ausge¬ gangenen Leibesſproſſen ſich ableiteten, iſt das urſprüng¬ liche Vereinigungsband aller in der Geſchichte uns vor¬ kommenden Stämme und Völker. In den Ueberlieferungen der Sage bewahrt dieſer geſchlechtliche Stamm wie in immer lebhafter Erinnerung, das unwillkürliche Wiſſen von ſeiner gemeinſchaftlichen Herkunft: die Eindrücke der beſonders gearteten Natur, die ihn umgiebt, erheben dieſe ſagenhaften

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Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/169>, abgerufen am 29.04.2024.