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Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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kleinen Holzschrank neben dem Ofen, öffnete leise und fühlte in den beiden Fächern mit der Hand umher. In einer Ecke stand eine große Flasche. Sie hob dieselbe heraus, schüttelte sie am Ohr und überzeugte sich davon, daß sie eine Flüssigkeit enthielt, roch auch hinein und trat dann dicht an das Fenster, wo das Schimmerlicht von außen Gegenstände, wennschon undeutlich, erkennen ließ. Sie zog dann etwas aus der Tasche, legte die Hand wie einen Trichter um den Hals der Flasche, schüttete ein Papier darein aus, rüttelte die Flüssigkeit eine Weile hin und her und stellte das Gefäß wieder in den Schrank hinein, genau an die Stelle, wo sie es gefunden hatte. Dann schlich sie hinaus, hob die Thür ein und ging im Bogen über Feld nach der Wohnung ihres Großvaters.

Zwei Tage später verbreitete sich am Morgen das Gerücht, die Urte Karalene sei soeben von Leuten, die zum Marktsflecken wollten, auf der Haide unter einem Wachholderstrauch todt gefunden worden. Man wußte, daß sie am Abend vorher in der Spinnstube über Magenschmerzen geklagt und der Branntweinflasche tüchtig zugesprochen hatte, um sie zu vertreiben. Mit der trunksüchtigen Alten habe es gar kein gutes Ende nehmen können, hieß es allgemein: wahrscheinlich habe sie den Weg verfehlt, sei über den Wachholder gefallen, dort liegen geblieben und in der kalten Nacht jämmerlich umgekommen. Das schrieb auch der Richter bei der Leichenschau zu Protokoll, und die Sache war abgethan.

kleinen Holzschrank neben dem Ofen, öffnete leise und fühlte in den beiden Fächern mit der Hand umher. In einer Ecke stand eine große Flasche. Sie hob dieselbe heraus, schüttelte sie am Ohr und überzeugte sich davon, daß sie eine Flüssigkeit enthielt, roch auch hinein und trat dann dicht an das Fenster, wo das Schimmerlicht von außen Gegenstände, wennschon undeutlich, erkennen ließ. Sie zog dann etwas aus der Tasche, legte die Hand wie einen Trichter um den Hals der Flasche, schüttete ein Papier darein aus, rüttelte die Flüssigkeit eine Weile hin und her und stellte das Gefäß wieder in den Schrank hinein, genau an die Stelle, wo sie es gefunden hatte. Dann schlich sie hinaus, hob die Thür ein und ging im Bogen über Feld nach der Wohnung ihres Großvaters.

Zwei Tage später verbreitete sich am Morgen das Gerücht, die Urte Karalene sei soeben von Leuten, die zum Marktsflecken wollten, auf der Haide unter einem Wachholderstrauch todt gefunden worden. Man wußte, daß sie am Abend vorher in der Spinnstube über Magenschmerzen geklagt und der Branntweinflasche tüchtig zugesprochen hatte, um sie zu vertreiben. Mit der trunksüchtigen Alten habe es gar kein gutes Ende nehmen können, hieß es allgemein: wahrscheinlich habe sie den Weg verfehlt, sei über den Wachholder gefallen, dort liegen geblieben und in der kalten Nacht jämmerlich umgekommen. Das schrieb auch der Richter bei der Leichenschau zu Protokoll, und die Sache war abgethan.

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[0066] kleinen Holzschrank neben dem Ofen, öffnete leise und fühlte in den beiden Fächern mit der Hand umher. In einer Ecke stand eine große Flasche. Sie hob dieselbe heraus, schüttelte sie am Ohr und überzeugte sich davon, daß sie eine Flüssigkeit enthielt, roch auch hinein und trat dann dicht an das Fenster, wo das Schimmerlicht von außen Gegenstände, wennschon undeutlich, erkennen ließ. Sie zog dann etwas aus der Tasche, legte die Hand wie einen Trichter um den Hals der Flasche, schüttete ein Papier darein aus, rüttelte die Flüssigkeit eine Weile hin und her und stellte das Gefäß wieder in den Schrank hinein, genau an die Stelle, wo sie es gefunden hatte. Dann schlich sie hinaus, hob die Thür ein und ging im Bogen über Feld nach der Wohnung ihres Großvaters. Zwei Tage später verbreitete sich am Morgen das Gerücht, die Urte Karalene sei soeben von Leuten, die zum Marktsflecken wollten, auf der Haide unter einem Wachholderstrauch todt gefunden worden. Man wußte, daß sie am Abend vorher in der Spinnstube über Magenschmerzen geklagt und der Branntweinflasche tüchtig zugesprochen hatte, um sie zu vertreiben. Mit der trunksüchtigen Alten habe es gar kein gutes Ende nehmen können, hieß es allgemein: wahrscheinlich habe sie den Weg verfehlt, sei über den Wachholder gefallen, dort liegen geblieben und in der kalten Nacht jämmerlich umgekommen. Das schrieb auch der Richter bei der Leichenschau zu Protokoll, und die Sache war abgethan.

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:07:21Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wichert_grita_1910/66>, abgerufen am 05.05.2024.