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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Fünftes Buch, siebentes Capitel.
Schwestern begleitet, kühn genug war, es mit seiner Göt-
tin aufzuuehmen. Allein er wurde bald gezwungen an-
ders Sinnes zu werden, als er sie hörte; alle seine
Vorurtheile für die Muse konnten ihn nicht verhindern,
sich selbst zu gestehen, daß eine fast unwiderstehliche Verfüh-
rung in ihren Tönen athmete. Jhre Stimme, die an
Weichheit und Biegsamkeit nicht übertroffen werden
konnte, schien alle Grade der Entzükungen auszudrü-
ken, deren die sinnliche Liebe fähig ist; und das weiche
Getön der Flöten erhöhte die Lebhaftigkeit dieses Aus-
druks auf einen Grad, der kaum einen Unterschied zwi-
chen der Nachahmung und der Wahrheit übrig ließ.
Wenn die Sirenen, bey denen der kluge Ulysses vorbey-
fahren mußte, so gesungen haben, (dachte Agathon)
so hatte er wohl Ursache, sich an Händen und Füssen an
den Mastbaum binden zu lassen. Kaum hatten die Si-
renen diesen Gesang geendiget, so erhub sich ein frolo-
kendes Klatschen aus dem Wasser, und die kleinen Tri-
tonen stiessen in ihre Hörner, den Sieg anzudeuten,
den sie über die Musen erhalten zu haben glaubten.
Allein diese hatten den Muth nicht verlohren: Sie er-
munterten sich bald wieder, und fiengen eine Sympho-
nie an, wovon der Anfang eine spottende Nachah-
mung des Gesanges der Sirenen zu seyn schien. Nach
einer Weile wechselten sie die Tonart und den Rhyt-
mus, und siengen ein Andante an, welches in weni-
gen Tagen nicht die mindeste Spur von den Eindrüken
übrig ließ, die der Syrenen Gesang auf das Gemüthe
der Hörenden gemacht haben konnte. Eine süsse Schwer-

muth
[Agath. I. Th.] N

Fuͤnftes Buch, ſiebentes Capitel.
Schweſtern begleitet, kuͤhn genug war, es mit ſeiner Goͤt-
tin aufzuuehmen. Allein er wurde bald gezwungen an-
ders Sinnes zu werden, als er ſie hoͤrte; alle ſeine
Vorurtheile fuͤr die Muſe konnten ihn nicht verhindern,
ſich ſelbſt zu geſtehen, daß eine faſt unwiderſtehliche Verfuͤh-
rung in ihren Toͤnen athmete. Jhre Stimme, die an
Weichheit und Biegſamkeit nicht uͤbertroffen werden
konnte, ſchien alle Grade der Entzuͤkungen auszudruͤ-
ken, deren die ſinnliche Liebe faͤhig iſt; und das weiche
Getoͤn der Floͤten erhoͤhte die Lebhaftigkeit dieſes Aus-
druks auf einen Grad, der kaum einen Unterſchied zwi-
chen der Nachahmung und der Wahrheit uͤbrig ließ.
Wenn die Sirenen, bey denen der kluge Ulyſſes vorbey-
fahren mußte, ſo geſungen haben, (dachte Agathon)
ſo hatte er wohl Urſache, ſich an Haͤnden und Fuͤſſen an
den Maſtbaum binden zu laſſen. Kaum hatten die Si-
renen dieſen Geſang geendiget, ſo erhub ſich ein frolo-
kendes Klatſchen aus dem Waſſer, und die kleinen Tri-
tonen ſtieſſen in ihre Hoͤrner, den Sieg anzudeuten,
den ſie uͤber die Muſen erhalten zu haben glaubten.
Allein dieſe hatten den Muth nicht verlohren: Sie er-
munterten ſich bald wieder, und fiengen eine Sympho-
nie an, wovon der Anfang eine ſpottende Nachah-
mung des Geſanges der Sirenen zu ſeyn ſchien. Nach
einer Weile wechſelten ſie die Tonart und den Rhyt-
mus, und ſiengen ein Andante an, welches in weni-
gen Tagen nicht die mindeſte Spur von den Eindruͤken
uͤbrig ließ, die der Syrenen Geſang auf das Gemuͤthe
der Hoͤrenden gemacht haben konnte. Eine ſuͤſſe Schwer-

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[Agath. I. Th.] N
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[193/0215] Fuͤnftes Buch, ſiebentes Capitel. Schweſtern begleitet, kuͤhn genug war, es mit ſeiner Goͤt- tin aufzuuehmen. Allein er wurde bald gezwungen an- ders Sinnes zu werden, als er ſie hoͤrte; alle ſeine Vorurtheile fuͤr die Muſe konnten ihn nicht verhindern, ſich ſelbſt zu geſtehen, daß eine faſt unwiderſtehliche Verfuͤh- rung in ihren Toͤnen athmete. Jhre Stimme, die an Weichheit und Biegſamkeit nicht uͤbertroffen werden konnte, ſchien alle Grade der Entzuͤkungen auszudruͤ- ken, deren die ſinnliche Liebe faͤhig iſt; und das weiche Getoͤn der Floͤten erhoͤhte die Lebhaftigkeit dieſes Aus- druks auf einen Grad, der kaum einen Unterſchied zwi- chen der Nachahmung und der Wahrheit uͤbrig ließ. Wenn die Sirenen, bey denen der kluge Ulyſſes vorbey- fahren mußte, ſo geſungen haben, (dachte Agathon) ſo hatte er wohl Urſache, ſich an Haͤnden und Fuͤſſen an den Maſtbaum binden zu laſſen. Kaum hatten die Si- renen dieſen Geſang geendiget, ſo erhub ſich ein frolo- kendes Klatſchen aus dem Waſſer, und die kleinen Tri- tonen ſtieſſen in ihre Hoͤrner, den Sieg anzudeuten, den ſie uͤber die Muſen erhalten zu haben glaubten. Allein dieſe hatten den Muth nicht verlohren: Sie er- munterten ſich bald wieder, und fiengen eine Sympho- nie an, wovon der Anfang eine ſpottende Nachah- mung des Geſanges der Sirenen zu ſeyn ſchien. Nach einer Weile wechſelten ſie die Tonart und den Rhyt- mus, und ſiengen ein Andante an, welches in weni- gen Tagen nicht die mindeſte Spur von den Eindruͤken uͤbrig ließ, die der Syrenen Geſang auf das Gemuͤthe der Hoͤrenden gemacht haben konnte. Eine ſuͤſſe Schwer- muth [Agath. I. Th.] N

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/215>, abgerufen am 27.04.2024.