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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, erstes Capitel.
her aus einer gewissen Schaam vor der Tugend unsers
Helden sich bemüht hatte, seine schwache Seite vor ihm
zu verbergen, von dieser Stunde an weniger zurükhal-
tend wurde, und aus dem vielleicht unrichtigen aber sehr
gemeinen Vorurtheil, daß die Tugend eine erklärte
Feindin der Gottheiten von Cythere seyn müsse, einen
Argwohn gegen unsern Helden faßte, wodurch er um
einige Stuffen herab, und mit ihm selbst und den übri-
gen Erdenbewohnern, in Absicht gewisser Schwachhei-
ten, in die nehmliche Linie gestellt wurde -- ein Ver-
dacht, der zwar durch die sich selbst immer gleiche Auf-
führung Agathons bald wieder zum Schweigen gebracht,
aber doch nicht so gänzlich unterdrükt wurde, daß sein
geheimer Einfluß in der Folge den Beschuldigungen der
Feinde Agathons, den Zugang in das Gemüth eines
Prinzen nicht erleichtert hätte, welcher ohnehin so ge-
neigt war, die Tugend entweder für Schwärmerey oder
für Verstellung zu halten. Jndessen gewann Agathon
durch seine Nachsicht gegen die Lieblings-Fehler dieses
Prinzen, daß er sich desto williger bewegen ließ, an den
Geschäften der Regierung mehr Antheil zu nehmen, als
er gewohnt war; und wir an unserm theil können es
ihm verzeyhen, daß er das viele Gute, welches er da-
durch erhielt, für eine hinlängliche Vergutung des Ta-
dels ansah, den er sich durch diese Gefälligkeit bey ge-
wissen Leuten von strengen Grundsäzen zuzog, welche
in der weiten Entfernung von der Welt, worinn sie
leben, gute Weile haben, an andern zu verdammen,
was sie an derselben Plaz, vielleicht noch schlimmer ge-
macht haben würden.

Ausser

Zehentes Buch, erſtes Capitel.
her aus einer gewiſſen Schaam vor der Tugend unſers
Helden ſich bemuͤht hatte, ſeine ſchwache Seite vor ihm
zu verbergen, von dieſer Stunde an weniger zuruͤkhal-
tend wurde, und aus dem vielleicht unrichtigen aber ſehr
gemeinen Vorurtheil, daß die Tugend eine erklaͤrte
Feindin der Gottheiten von Cythere ſeyn muͤſſe, einen
Argwohn gegen unſern Helden faßte, wodurch er um
einige Stuffen herab, und mit ihm ſelbſt und den uͤbri-
gen Erdenbewohnern, in Abſicht gewiſſer Schwachhei-
ten, in die nehmliche Linie geſtellt wurde ‒‒ ein Ver-
dacht, der zwar durch die ſich ſelbſt immer gleiche Auf-
fuͤhrung Agathons bald wieder zum Schweigen gebracht,
aber doch nicht ſo gaͤnzlich unterdruͤkt wurde, daß ſein
geheimer Einfluß in der Folge den Beſchuldigungen der
Feinde Agathons, den Zugang in das Gemuͤth eines
Prinzen nicht erleichtert haͤtte, welcher ohnehin ſo ge-
neigt war, die Tugend entweder fuͤr Schwaͤrmerey oder
fuͤr Verſtellung zu halten. Jndeſſen gewann Agathon
durch ſeine Nachſicht gegen die Lieblings-Fehler dieſes
Prinzen, daß er ſich deſto williger bewegen ließ, an den
Geſchaͤften der Regierung mehr Antheil zu nehmen, als
er gewohnt war; und wir an unſerm theil koͤnnen es
ihm verzeyhen, daß er das viele Gute, welches er da-
durch erhielt, fuͤr eine hinlaͤngliche Vergutung des Ta-
dels anſah, den er ſich durch dieſe Gefaͤlligkeit bey ge-
wiſſen Leuten von ſtrengen Grundſaͤzen zuzog, welche
in der weiten Entfernung von der Welt, worinn ſie
leben, gute Weile haben, an andern zu verdammen,
was ſie an derſelben Plaz, vielleicht noch ſchlimmer ge-
macht haben wuͤrden.

Auſſer
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[203/0205] Zehentes Buch, erſtes Capitel. her aus einer gewiſſen Schaam vor der Tugend unſers Helden ſich bemuͤht hatte, ſeine ſchwache Seite vor ihm zu verbergen, von dieſer Stunde an weniger zuruͤkhal- tend wurde, und aus dem vielleicht unrichtigen aber ſehr gemeinen Vorurtheil, daß die Tugend eine erklaͤrte Feindin der Gottheiten von Cythere ſeyn muͤſſe, einen Argwohn gegen unſern Helden faßte, wodurch er um einige Stuffen herab, und mit ihm ſelbſt und den uͤbri- gen Erdenbewohnern, in Abſicht gewiſſer Schwachhei- ten, in die nehmliche Linie geſtellt wurde ‒‒ ein Ver- dacht, der zwar durch die ſich ſelbſt immer gleiche Auf- fuͤhrung Agathons bald wieder zum Schweigen gebracht, aber doch nicht ſo gaͤnzlich unterdruͤkt wurde, daß ſein geheimer Einfluß in der Folge den Beſchuldigungen der Feinde Agathons, den Zugang in das Gemuͤth eines Prinzen nicht erleichtert haͤtte, welcher ohnehin ſo ge- neigt war, die Tugend entweder fuͤr Schwaͤrmerey oder fuͤr Verſtellung zu halten. Jndeſſen gewann Agathon durch ſeine Nachſicht gegen die Lieblings-Fehler dieſes Prinzen, daß er ſich deſto williger bewegen ließ, an den Geſchaͤften der Regierung mehr Antheil zu nehmen, als er gewohnt war; und wir an unſerm theil koͤnnen es ihm verzeyhen, daß er das viele Gute, welches er da- durch erhielt, fuͤr eine hinlaͤngliche Vergutung des Ta- dels anſah, den er ſich durch dieſe Gefaͤlligkeit bey ge- wiſſen Leuten von ſtrengen Grundſaͤzen zuzog, welche in der weiten Entfernung von der Welt, worinn ſie leben, gute Weile haben, an andern zu verdammen, was ſie an derſelben Plaz, vielleicht noch ſchlimmer ge- macht haben wuͤrden. Auſſer

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/205>, abgerufen am 27.04.2024.