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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen
und künftigen Einfluß auf die materielle Fortbil¬
dung der Gesellschaft. Allein es war auch nur
meine Absicht, diese Wissenschaft in ihrer theoreti¬
schen Abstraktheit aufzustellen und sie zum Gegen¬
satz auf jene andern Zweige des Wissens zu lei¬
ten, welche von vorn herein sich mit irdischem
Heimathsgefühl zum Menschen gesellen und an den
höheren geistigen Evolutionen des Geschlechts in¬
nigen Antheil nehmen. Dahin zähle ich die Stu¬
dien der Natur und Kunst, die gleichsam Hand
in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Ge¬
schichte theilen. Dieselbe geschichtliche Natur hat
die Aesthetik. Sie beruht auf dem Leben, ist
mehr oder minder lebendig, tief oder oberflächlich,
welk oder blühend, je nachdem das Herz, das in
einem Zeitalter pulsirte, das Eine oder das Andere
war. Man sieht sie von Zeit zu Zeit bei Plato,
Plotin, Hemsterhuis, Solger in verändertem Ge¬
wande hervortreten, in schöner Form, in Unform,
als tiefsinnigste Lebensphilosophie, als Tagsgeschwätz,
bald unter diesem, bald unter jenem Namen.
Lassen Sie sich nicht irre machen über ihre Natur
und Existenz! Jeder ausübende Künstler, jeder
handelnde und fühlende Mensch trägt seine Aesthe¬
tik in sich, bewußt oder unbewußt fällen wir täg¬
lich Hunderte von ästhetischen Urtheilen, aus denen

erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen
und kuͤnftigen Einfluß auf die materielle Fortbil¬
dung der Geſellſchaft. Allein es war auch nur
meine Abſicht, dieſe Wiſſenſchaft in ihrer theoreti¬
ſchen Abſtraktheit aufzuſtellen und ſie zum Gegen¬
ſatz auf jene andern Zweige des Wiſſens zu lei¬
ten, welche von vorn herein ſich mit irdiſchem
Heimathsgefuͤhl zum Menſchen geſellen und an den
hoͤheren geiſtigen Evolutionen des Geſchlechts in¬
nigen Antheil nehmen. Dahin zaͤhle ich die Stu¬
dien der Natur und Kunſt, die gleichſam Hand
in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Ge¬
ſchichte theilen. Dieſelbe geſchichtliche Natur hat
die Aeſthetik. Sie beruht auf dem Leben, iſt
mehr oder minder lebendig, tief oder oberflaͤchlich,
welk oder bluͤhend, je nachdem das Herz, das in
einem Zeitalter pulſirte, das Eine oder das Andere
war. Man ſieht ſie von Zeit zu Zeit bei Plato,
Plotin, Hemſterhuis, Solger in veraͤndertem Ge¬
wande hervortreten, in ſchoͤner Form, in Unform,
als tiefſinnigſte Lebensphiloſophie, als Tagsgeſchwaͤtz,
bald unter dieſem, bald unter jenem Namen.
Laſſen Sie ſich nicht irre machen uͤber ihre Natur
und Exiſtenz! Jeder ausuͤbende Kuͤnſtler, jeder
handelnde und fuͤhlende Menſch traͤgt ſeine Aeſthe¬
tik in ſich, bewußt oder unbewußt faͤllen wir taͤg¬
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[87/0101] erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen und kuͤnftigen Einfluß auf die materielle Fortbil¬ dung der Geſellſchaft. Allein es war auch nur meine Abſicht, dieſe Wiſſenſchaft in ihrer theoreti¬ ſchen Abſtraktheit aufzuſtellen und ſie zum Gegen¬ ſatz auf jene andern Zweige des Wiſſens zu lei¬ ten, welche von vorn herein ſich mit irdiſchem Heimathsgefuͤhl zum Menſchen geſellen und an den hoͤheren geiſtigen Evolutionen des Geſchlechts in¬ nigen Antheil nehmen. Dahin zaͤhle ich die Stu¬ dien der Natur und Kunſt, die gleichſam Hand in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Ge¬ ſchichte theilen. Dieſelbe geſchichtliche Natur hat die Aeſthetik. Sie beruht auf dem Leben, iſt mehr oder minder lebendig, tief oder oberflaͤchlich, welk oder bluͤhend, je nachdem das Herz, das in einem Zeitalter pulſirte, das Eine oder das Andere war. Man ſieht ſie von Zeit zu Zeit bei Plato, Plotin, Hemſterhuis, Solger in veraͤndertem Ge¬ wande hervortreten, in ſchoͤner Form, in Unform, als tiefſinnigſte Lebensphiloſophie, als Tagsgeſchwaͤtz, bald unter dieſem, bald unter jenem Namen. Laſſen Sie ſich nicht irre machen uͤber ihre Natur und Exiſtenz! Jeder ausuͤbende Kuͤnſtler, jeder handelnde und fuͤhlende Menſch traͤgt ſeine Aeſthe¬ tik in ſich, bewußt oder unbewußt faͤllen wir taͤg¬ lich Hunderte von aͤſthetiſchen Urtheilen, aus denen

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/101>, abgerufen am 27.04.2024.