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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 7. Die verfassung.
dann denen der neun archonten u. s. w. in der erläuterung dieses ge-
setzes hat Schöll sehr schön dargelegt, dass die gesetze nichts anderes sind
als instructionen der beamten, und dass Solon selbst sie in dieser form und
dem entsprechend in dieser reihenfolge aufgezeichnet hatte. wir kennen
ja auch citate aus den nomoi basilikoi, agoranomikoi u. s. w. die stellen
sind denen geläufig, die von attischer verfassung etwas wissen, sind auch
zum teil in diesem capitel gelegentlich angeführt. jede darstellung der
attischen verfassung musste also von selbst sich gewissermassen als ein
auszug und eine erläuterung dieser alljährlich neu revidirten, alljährlich
auch geänderten gesetze darstellen. zu Aristoteles zeit war ein eigener
secretär dafür angestellt, dies gesetzbuch, das in erster linie beamten-
instruction war, auf dem laufenden zu erhalten, und Aristoteles war
gewiss in der lage, sich eine copie zu verschaffen, oder doch das jetzt
geltende recht sicher daraus zu constatiren, wo er das für nötig hielt.
jeder advocat und redner bedurfte dieser gesetze für sein handwerk.
abschriften können gar nicht selten in Athen gewesen sein, ganz ab-
gesehen von den publicationen auf stein, die mancher orten standen,
aber natürlich nur teile umfassten. eben deshalb waren die gesetze
auch von den vielen benutzt, die Athens stadtgeschichte mit ausgiebiger
berücksichtigung seiner institutionen geschrieben hatten. was nirgend
stand, weder bei Solon noch in den acten des archivs, war das staats-
recht. ganz wie in Rom. für die competenz des souveräns gab es
keine gesetze; die rechtlichen gedanken, die alles beherrschten, waren nie
und nirgends codificirt. wir mögen uns frei machen von der agglutini-
renden sprache der alten darstellungen und das staatsrecht Athens orga-
nisch entwickeln: eine geschriebene verfassung hat es darum doch in
Athen gegeben; wozu waren denn auch Drakon und Solon aufgestanden?
und ein staatsrecht hat es auch gegeben, obwol das nicht geschrieben
worden ist, von niemandem bis auf diesen tag. den Aristoteles wollen
wir nicht schelten, dass er nur wieder gegeben hat, was in den gesetzen
stand, sehr viel kürzer und für unsere wünsche minder brauchbar als
z. b. Philochoros. aber erst wenn wir dieses verhältnis erfasst haben,
können wir ihn verstehen und seine angaben richtig benutzen.

Eine probe will ich als corollar geben, weil einmal ein stückchen der
wirklichen gesetze erhalten ist. der sehr sykophantische und stilistisch
wenig gewandte verfertiger der rede gegen Makartatos hat uns einen
grossen gefallen getan, indem er nicht nur die zeugenaussagen, wie sie
der diaetet protocollirt und in die kapsel gesteckt hatte, sondern auch
eine menge gesetze, die zum teil sehr wenig zu seiner sache gehören,

I. 7. Die verfassung.
dann denen der neun archonten u. s. w. in der erläuterung dieses ge-
setzes hat Schöll sehr schön dargelegt, daſs die gesetze nichts anderes sind
als instructionen der beamten, und daſs Solon selbst sie in dieser form und
dem entsprechend in dieser reihenfolge aufgezeichnet hatte. wir kennen
ja auch citate aus den νόμοι βασιλικοί, ἀγοϱανομικοί u. s. w. die stellen
sind denen geläufig, die von attischer verfassung etwas wissen, sind auch
zum teil in diesem capitel gelegentlich angeführt. jede darstellung der
attischen verfassung muſste also von selbst sich gewissermaſsen als ein
auszug und eine erläuterung dieser alljährlich neu revidirten, alljährlich
auch geänderten gesetze darstellen. zu Aristoteles zeit war ein eigener
secretär dafür angestellt, dies gesetzbuch, das in erster linie beamten-
instruction war, auf dem laufenden zu erhalten, und Aristoteles war
gewiſs in der lage, sich eine copie zu verschaffen, oder doch das jetzt
geltende recht sicher daraus zu constatiren, wo er das für nötig hielt.
jeder advocat und redner bedurfte dieser gesetze für sein handwerk.
abschriften können gar nicht selten in Athen gewesen sein, ganz ab-
gesehen von den publicationen auf stein, die mancher orten standen,
aber natürlich nur teile umfaſsten. eben deshalb waren die gesetze
auch von den vielen benutzt, die Athens stadtgeschichte mit ausgiebiger
berücksichtigung seiner institutionen geschrieben hatten. was nirgend
stand, weder bei Solon noch in den acten des archivs, war das staats-
recht. ganz wie in Rom. für die competenz des souveräns gab es
keine gesetze; die rechtlichen gedanken, die alles beherrschten, waren nie
und nirgends codificirt. wir mögen uns frei machen von der agglutini-
renden sprache der alten darstellungen und das staatsrecht Athens orga-
nisch entwickeln: eine geschriebene verfassung hat es darum doch in
Athen gegeben; wozu waren denn auch Drakon und Solon aufgestanden?
und ein staatsrecht hat es auch gegeben, obwol das nicht geschrieben
worden ist, von niemandem bis auf diesen tag. den Aristoteles wollen
wir nicht schelten, daſs er nur wieder gegeben hat, was in den gesetzen
stand, sehr viel kürzer und für unsere wünsche minder brauchbar als
z. b. Philochoros. aber erst wenn wir dieses verhältnis erfaſst haben,
können wir ihn verstehen und seine angaben richtig benutzen.

Eine probe will ich als corollar geben, weil einmal ein stückchen der
wirklichen gesetze erhalten ist. der sehr sykophantische und stilistisch
wenig gewandte verfertiger der rede gegen Makartatos hat uns einen
groſsen gefallen getan, indem er nicht nur die zeugenaussagen, wie sie
der diaetet protocollirt und in die kapsel gesteckt hatte, sondern auch
eine menge gesetze, die zum teil sehr wenig zu seiner sache gehören,

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[258/0272] I. 7. Die verfassung. dann denen der neun archonten u. s. w. in der erläuterung dieses ge- setzes hat Schöll sehr schön dargelegt, daſs die gesetze nichts anderes sind als instructionen der beamten, und daſs Solon selbst sie in dieser form und dem entsprechend in dieser reihenfolge aufgezeichnet hatte. wir kennen ja auch citate aus den νόμοι βασιλικοί, ἀγοϱανομικοί u. s. w. die stellen sind denen geläufig, die von attischer verfassung etwas wissen, sind auch zum teil in diesem capitel gelegentlich angeführt. jede darstellung der attischen verfassung muſste also von selbst sich gewissermaſsen als ein auszug und eine erläuterung dieser alljährlich neu revidirten, alljährlich auch geänderten gesetze darstellen. zu Aristoteles zeit war ein eigener secretär dafür angestellt, dies gesetzbuch, das in erster linie beamten- instruction war, auf dem laufenden zu erhalten, und Aristoteles war gewiſs in der lage, sich eine copie zu verschaffen, oder doch das jetzt geltende recht sicher daraus zu constatiren, wo er das für nötig hielt. jeder advocat und redner bedurfte dieser gesetze für sein handwerk. abschriften können gar nicht selten in Athen gewesen sein, ganz ab- gesehen von den publicationen auf stein, die mancher orten standen, aber natürlich nur teile umfaſsten. eben deshalb waren die gesetze auch von den vielen benutzt, die Athens stadtgeschichte mit ausgiebiger berücksichtigung seiner institutionen geschrieben hatten. was nirgend stand, weder bei Solon noch in den acten des archivs, war das staats- recht. ganz wie in Rom. für die competenz des souveräns gab es keine gesetze; die rechtlichen gedanken, die alles beherrschten, waren nie und nirgends codificirt. wir mögen uns frei machen von der agglutini- renden sprache der alten darstellungen und das staatsrecht Athens orga- nisch entwickeln: eine geschriebene verfassung hat es darum doch in Athen gegeben; wozu waren denn auch Drakon und Solon aufgestanden? und ein staatsrecht hat es auch gegeben, obwol das nicht geschrieben worden ist, von niemandem bis auf diesen tag. den Aristoteles wollen wir nicht schelten, daſs er nur wieder gegeben hat, was in den gesetzen stand, sehr viel kürzer und für unsere wünsche minder brauchbar als z. b. Philochoros. aber erst wenn wir dieses verhältnis erfaſst haben, können wir ihn verstehen und seine angaben richtig benutzen. Eine probe will ich als corollar geben, weil einmal ein stückchen der wirklichen gesetze erhalten ist. der sehr sykophantische und stilistisch wenig gewandte verfertiger der rede gegen Makartatos hat uns einen groſsen gefallen getan, indem er nicht nur die zeugenaussagen, wie sie der diaetet protocollirt und in die kapsel gesteckt hatte, sondern auch eine menge gesetze, die zum teil sehr wenig zu seiner sache gehören,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/272>, abgerufen am 28.04.2024.