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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Isokrates und die Rhetorik. attische poesie und die poetik.
schen dem greisen rhetor und dem aufstrebenden Platoniker: zu einem
conflicte zwischen diesen beiden ist es nicht gekommen.13)

Theodektes war dichter und rhetor, und vielleicht noch mehr alsAttische
poesie und
die Poetik.

die prosa stand damals die hohe poesie unter dem einflusse des Isokrates.
Aristoteles hat diese rhetorische tragödie, die nur ein ephemeres leben
geführt hat, hoch geschätzt; ihm fast allein danken wir die verse die
wir noch lesen. er findet nichts dabei, dass die tragiker statt der
unübersehbaren fülle der stoffe, die Sophokles und Euripides behandelt
hatten, nur noch ein par vorwürfe immer wieder vornehmen, lauter
grelle grausame sujets, muttermord, kindermord, wahnsinn, blutschande.
die kunst des dichters war also eine fast nur formale: das dramatische
konnte gar nicht mehr die tragödie machen, macht es ja auch nicht in
der theorie des Aristoteles. aber ein fester stil war da, wie wir nach
der analogie der prosa gern glauben, mit höchstem raffinement aus-
gebildet. dieser stil zog den Aristoteles an. einen ganz anderen, der
logischen strenge und verständigen klarheit der rhetorischen poesie ab-
sichtlich entgegengesetzten, hatte die lyrik der zeit, der dithyrambus,
ausgebildet. neben den lediglich die sinne reizenden effecten der musik
und des tanzes wirkte aber auch hier der stil, keinesweges der inhalt:
auch den dithyrambus hat Aristoteles als etwas gegebenes und berech-
tigtes seiner aufmerksamkeit gewürdigt. er kam aus einem thrakischen
winkel in die capitale, und er war blutjung: es war nur recht, dass er
die genüsse des attischen theaters nicht verschmähte: die wirkung der
tragödie hat er an sich selbst erlebt. Homer und Archilochos, auch wol
Simonides kannte er aus den schulen seiner heimat; Alkman und Pindar,
von den dorischen weiblein zu schweigen, sind ihm zeitlebens fremd
geblieben. er hatte sehr starke aesthetische neigungen, wie wir das
nennen, und ist dadurch zum begründer der litteraturgeschichte geworden,
zu der er in seinem dialoge über die dichter die grundlinien gezogen
hat.14) allein die geschichte war ihm auch hier nur mittel zum zwecke,
der theorie des stiles. es ist ihm nicht eingefallen, als gesetzgeber auf-

13) Hypothesen, die mit den apollodorischen angaben über das leben des
Aristoteles streiten, hätten gar nicht aufgestellt werden sollen; jedenfalls braucht
man sie nicht zu widerlegen, so leicht es wäre.
14) Die ansätze zu philologischer exegese in den homerischen, archilochi-
schen u. a. Fragen sind nichts für ihn charakteristisches; sie war von kynikern
und sophisten ganz ähnlich getrieben. aber wol hat ihn die poetik zur grammatik
wie die rhetorik zur logik geführt; das heisst auf den weg. denn er hat die
grammatik als wissenschaftliche disciplin weder begrifflich erfasst noch tatsächlich
begründet.
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 21

Isokrates und die Rhetorik. attische poesie und die poetik.
schen dem greisen rhetor und dem aufstrebenden Platoniker: zu einem
conflicte zwischen diesen beiden ist es nicht gekommen.13)

Theodektes war dichter und rhetor, und vielleicht noch mehr alsAttische
poesie und
die Poetik.

die prosa stand damals die hohe poesie unter dem einflusse des Isokrates.
Aristoteles hat diese rhetorische tragödie, die nur ein ephemeres leben
geführt hat, hoch geschätzt; ihm fast allein danken wir die verse die
wir noch lesen. er findet nichts dabei, daſs die tragiker statt der
unübersehbaren fülle der stoffe, die Sophokles und Euripides behandelt
hatten, nur noch ein par vorwürfe immer wieder vornehmen, lauter
grelle grausame sujets, muttermord, kindermord, wahnsinn, blutschande.
die kunst des dichters war also eine fast nur formale: das dramatische
konnte gar nicht mehr die tragödie machen, macht es ja auch nicht in
der theorie des Aristoteles. aber ein fester stil war da, wie wir nach
der analogie der prosa gern glauben, mit höchstem raffinement aus-
gebildet. dieser stil zog den Aristoteles an. einen ganz anderen, der
logischen strenge und verständigen klarheit der rhetorischen poesie ab-
sichtlich entgegengesetzten, hatte die lyrik der zeit, der dithyrambus,
ausgebildet. neben den lediglich die sinne reizenden effecten der musik
und des tanzes wirkte aber auch hier der stil, keinesweges der inhalt:
auch den dithyrambus hat Aristoteles als etwas gegebenes und berech-
tigtes seiner aufmerksamkeit gewürdigt. er kam aus einem thrakischen
winkel in die capitale, und er war blutjung: es war nur recht, daſs er
die genüsse des attischen theaters nicht verschmähte: die wirkung der
tragödie hat er an sich selbst erlebt. Homer und Archilochos, auch wol
Simonides kannte er aus den schulen seiner heimat; Alkman und Pindar,
von den dorischen weiblein zu schweigen, sind ihm zeitlebens fremd
geblieben. er hatte sehr starke aesthetische neigungen, wie wir das
nennen, und ist dadurch zum begründer der litteraturgeschichte geworden,
zu der er in seinem dialoge über die dichter die grundlinien gezogen
hat.14) allein die geschichte war ihm auch hier nur mittel zum zwecke,
der theorie des stiles. es ist ihm nicht eingefallen, als gesetzgeber auf-

13) Hypothesen, die mit den apollodorischen angaben über das leben des
Aristoteles streiten, hätten gar nicht aufgestellt werden sollen; jedenfalls braucht
man sie nicht zu widerlegen, so leicht es wäre.
14) Die ansätze zu philologischer exegese in den homerischen, archilochi-
schen u. a. Fragen sind nichts für ihn charakteristisches; sie war von kynikern
und sophisten ganz ähnlich getrieben. aber wol hat ihn die poetik zur grammatik
wie die rhetorik zur logik geführt; das heiſst auf den weg. denn er hat die
grammatik als wissenschaftliche disciplin weder begrifflich erfaſst noch tatsächlich
begründet.
v. Wilamowitz, Aristoteles I. 21
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[321/0335] Isokrates und die Rhetorik. attische poesie und die poetik. schen dem greisen rhetor und dem aufstrebenden Platoniker: zu einem conflicte zwischen diesen beiden ist es nicht gekommen. 13) Theodektes war dichter und rhetor, und vielleicht noch mehr als die prosa stand damals die hohe poesie unter dem einflusse des Isokrates. Aristoteles hat diese rhetorische tragödie, die nur ein ephemeres leben geführt hat, hoch geschätzt; ihm fast allein danken wir die verse die wir noch lesen. er findet nichts dabei, daſs die tragiker statt der unübersehbaren fülle der stoffe, die Sophokles und Euripides behandelt hatten, nur noch ein par vorwürfe immer wieder vornehmen, lauter grelle grausame sujets, muttermord, kindermord, wahnsinn, blutschande. die kunst des dichters war also eine fast nur formale: das dramatische konnte gar nicht mehr die tragödie machen, macht es ja auch nicht in der theorie des Aristoteles. aber ein fester stil war da, wie wir nach der analogie der prosa gern glauben, mit höchstem raffinement aus- gebildet. dieser stil zog den Aristoteles an. einen ganz anderen, der logischen strenge und verständigen klarheit der rhetorischen poesie ab- sichtlich entgegengesetzten, hatte die lyrik der zeit, der dithyrambus, ausgebildet. neben den lediglich die sinne reizenden effecten der musik und des tanzes wirkte aber auch hier der stil, keinesweges der inhalt: auch den dithyrambus hat Aristoteles als etwas gegebenes und berech- tigtes seiner aufmerksamkeit gewürdigt. er kam aus einem thrakischen winkel in die capitale, und er war blutjung: es war nur recht, daſs er die genüsse des attischen theaters nicht verschmähte: die wirkung der tragödie hat er an sich selbst erlebt. Homer und Archilochos, auch wol Simonides kannte er aus den schulen seiner heimat; Alkman und Pindar, von den dorischen weiblein zu schweigen, sind ihm zeitlebens fremd geblieben. er hatte sehr starke aesthetische neigungen, wie wir das nennen, und ist dadurch zum begründer der litteraturgeschichte geworden, zu der er in seinem dialoge über die dichter die grundlinien gezogen hat. 14) allein die geschichte war ihm auch hier nur mittel zum zwecke, der theorie des stiles. es ist ihm nicht eingefallen, als gesetzgeber auf- Attische poesie und die Poetik. 13) Hypothesen, die mit den apollodorischen angaben über das leben des Aristoteles streiten, hätten gar nicht aufgestellt werden sollen; jedenfalls braucht man sie nicht zu widerlegen, so leicht es wäre. 14) Die ansätze zu philologischer exegese in den homerischen, archilochi- schen u. a. Fragen sind nichts für ihn charakteristisches; sie war von kynikern und sophisten ganz ähnlich getrieben. aber wol hat ihn die poetik zur grammatik wie die rhetorik zur logik geführt; das heiſst auf den weg. denn er hat die grammatik als wissenschaftliche disciplin weder begrifflich erfaſst noch tatsächlich begründet. v. Wilamowitz, Aristoteles I. 21

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/335>, abgerufen am 14.06.2024.