Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

diese Entschlüsse um nichts schlechter und war zugleich ein Beweis von seiner eigenen Arglosigkeit.

Er war also entschlossen, sich loszureißen, und wollte nur noch Abschied nehmen; denn Abschied nehmen mußte er jedenfalls. Das hatte die großmüthige Güte, womit sie, die Einzige fast, sich nicht von ihm gewandt, gewiß von ihm verdient. Mit den grellsten Farben malte er sich die Undankbarkeit aus, die er begehen würde, wenn er fortginge, ohne sie vorher zu sehen, und den Genuß dieser wenigen Minuten in ihrer Nähe konnte er sich wohl erlauben, nun es so unwiderruflich beschlossen, daß es die letzten seien. Er wiederholte sich, daß er seinem Herzen nicht schmeicheln wolle durch dieses Wiedersehen, nur den Zauber wollte er ergründen, den sie so unerklärbar auf ihn ausgeübt; könne er ihn nur ergründen, sagte etwas in ihm, so höre der Zauber auf, ein Zauber zu sein, und an Leib und Seele wäre er von Neuem frei. Heute, an dem Sterbetage seiner Mutter, wo mit jeder vorüber fliehenden Minute sein Herz unter der Last einer schmerzlich süßen Erinnerung erbebte, wollte er zu ihr gehen, heute hatte die gefährliche Circe keine Gewalt über ihn.

Aber als er nun vor der reizenden Gräfin stand, fühlte er sich seines so leicht gedachten Sieges bei weitem nicht mehr so gewiß.

Sie haben mich fast erschreckt, sagte sie mit einem süßen Blicke, der sich, halb verschleiert nur, zu ihm stahl. Kommen Sie näher, sehen Sie meine Blumen an, fügte sie mit lieblicher Vertraulichkeit hinzu und reichte ihm die Hand. Von dieser kleinen, feinen, wunderbar zart gebildeten Hand, die er jetzt in der seinigen hielt, schien ein berauschendes Gift auszugehen, das in süßer Lähmung seine Seele betäubte. Er drückte seine Lippen darauf, und alle seine guten Entschlüsse flogen in den Wind. Eine lange Minute verging; ihre Hand lag noch immer in der seinigen, und er wußte es nicht. Sie stand neben ihm mit gesenkten Augen, verwirrt,

diese Entschlüsse um nichts schlechter und war zugleich ein Beweis von seiner eigenen Arglosigkeit.

Er war also entschlossen, sich loszureißen, und wollte nur noch Abschied nehmen; denn Abschied nehmen mußte er jedenfalls. Das hatte die großmüthige Güte, womit sie, die Einzige fast, sich nicht von ihm gewandt, gewiß von ihm verdient. Mit den grellsten Farben malte er sich die Undankbarkeit aus, die er begehen würde, wenn er fortginge, ohne sie vorher zu sehen, und den Genuß dieser wenigen Minuten in ihrer Nähe konnte er sich wohl erlauben, nun es so unwiderruflich beschlossen, daß es die letzten seien. Er wiederholte sich, daß er seinem Herzen nicht schmeicheln wolle durch dieses Wiedersehen, nur den Zauber wollte er ergründen, den sie so unerklärbar auf ihn ausgeübt; könne er ihn nur ergründen, sagte etwas in ihm, so höre der Zauber auf, ein Zauber zu sein, und an Leib und Seele wäre er von Neuem frei. Heute, an dem Sterbetage seiner Mutter, wo mit jeder vorüber fliehenden Minute sein Herz unter der Last einer schmerzlich süßen Erinnerung erbebte, wollte er zu ihr gehen, heute hatte die gefährliche Circe keine Gewalt über ihn.

Aber als er nun vor der reizenden Gräfin stand, fühlte er sich seines so leicht gedachten Sieges bei weitem nicht mehr so gewiß.

Sie haben mich fast erschreckt, sagte sie mit einem süßen Blicke, der sich, halb verschleiert nur, zu ihm stahl. Kommen Sie näher, sehen Sie meine Blumen an, fügte sie mit lieblicher Vertraulichkeit hinzu und reichte ihm die Hand. Von dieser kleinen, feinen, wunderbar zart gebildeten Hand, die er jetzt in der seinigen hielt, schien ein berauschendes Gift auszugehen, das in süßer Lähmung seine Seele betäubte. Er drückte seine Lippen darauf, und alle seine guten Entschlüsse flogen in den Wind. Eine lange Minute verging; ihre Hand lag noch immer in der seinigen, und er wußte es nicht. Sie stand neben ihm mit gesenkten Augen, verwirrt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <p><pb facs="#f0108"/>
diese Entschlüsse um nichts      schlechter und war zugleich ein Beweis von seiner eigenen Arglosigkeit.</p><lb/>
        <p>Er war also entschlossen, sich loszureißen, und wollte nur noch Abschied nehmen; denn      Abschied nehmen mußte er jedenfalls. Das hatte die großmüthige Güte, womit sie, die Einzige      fast, sich nicht von ihm gewandt, gewiß von ihm verdient. Mit den grellsten Farben malte er      sich die Undankbarkeit aus, die er begehen würde, wenn er fortginge, ohne sie vorher zu sehen,      und den Genuß dieser wenigen Minuten in ihrer Nähe konnte er sich wohl erlauben, nun es so      unwiderruflich beschlossen, daß es die letzten seien. Er wiederholte sich, daß er seinem Herzen      nicht schmeicheln wolle durch dieses Wiedersehen, nur den Zauber wollte er ergründen, den sie      so unerklärbar auf ihn ausgeübt; könne er ihn nur ergründen, sagte etwas in ihm, so höre der      Zauber auf, ein Zauber zu sein, und an Leib und Seele wäre er von Neuem frei. Heute, an dem      Sterbetage seiner Mutter, wo mit jeder vorüber fliehenden Minute sein Herz unter der Last einer      schmerzlich süßen Erinnerung erbebte, wollte er zu ihr gehen, heute hatte die gefährliche Circe      keine Gewalt über ihn.</p><lb/>
        <p>Aber als er nun vor der reizenden Gräfin stand, fühlte er sich seines so leicht gedachten      Sieges bei weitem nicht mehr so gewiß.</p><lb/>
        <p>Sie haben mich fast erschreckt, sagte sie mit einem süßen Blicke, der sich, halb verschleiert      nur, zu ihm stahl. Kommen Sie näher, sehen Sie meine Blumen an, fügte sie mit lieblicher      Vertraulichkeit hinzu und reichte ihm die Hand. Von dieser kleinen, feinen, wunderbar zart      gebildeten Hand, die er jetzt in der seinigen hielt, schien ein berauschendes Gift auszugehen,      das in süßer Lähmung seine Seele betäubte. Er drückte seine Lippen darauf, und alle seine guten      Entschlüsse flogen in den Wind. Eine lange Minute verging; ihre Hand lag noch immer in der      seinigen, und er wußte es nicht. Sie stand neben ihm mit gesenkten Augen, verwirrt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0108] diese Entschlüsse um nichts schlechter und war zugleich ein Beweis von seiner eigenen Arglosigkeit. Er war also entschlossen, sich loszureißen, und wollte nur noch Abschied nehmen; denn Abschied nehmen mußte er jedenfalls. Das hatte die großmüthige Güte, womit sie, die Einzige fast, sich nicht von ihm gewandt, gewiß von ihm verdient. Mit den grellsten Farben malte er sich die Undankbarkeit aus, die er begehen würde, wenn er fortginge, ohne sie vorher zu sehen, und den Genuß dieser wenigen Minuten in ihrer Nähe konnte er sich wohl erlauben, nun es so unwiderruflich beschlossen, daß es die letzten seien. Er wiederholte sich, daß er seinem Herzen nicht schmeicheln wolle durch dieses Wiedersehen, nur den Zauber wollte er ergründen, den sie so unerklärbar auf ihn ausgeübt; könne er ihn nur ergründen, sagte etwas in ihm, so höre der Zauber auf, ein Zauber zu sein, und an Leib und Seele wäre er von Neuem frei. Heute, an dem Sterbetage seiner Mutter, wo mit jeder vorüber fliehenden Minute sein Herz unter der Last einer schmerzlich süßen Erinnerung erbebte, wollte er zu ihr gehen, heute hatte die gefährliche Circe keine Gewalt über ihn. Aber als er nun vor der reizenden Gräfin stand, fühlte er sich seines so leicht gedachten Sieges bei weitem nicht mehr so gewiß. Sie haben mich fast erschreckt, sagte sie mit einem süßen Blicke, der sich, halb verschleiert nur, zu ihm stahl. Kommen Sie näher, sehen Sie meine Blumen an, fügte sie mit lieblicher Vertraulichkeit hinzu und reichte ihm die Hand. Von dieser kleinen, feinen, wunderbar zart gebildeten Hand, die er jetzt in der seinigen hielt, schien ein berauschendes Gift auszugehen, das in süßer Lähmung seine Seele betäubte. Er drückte seine Lippen darauf, und alle seine guten Entschlüsse flogen in den Wind. Eine lange Minute verging; ihre Hand lag noch immer in der seinigen, und er wußte es nicht. Sie stand neben ihm mit gesenkten Augen, verwirrt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/108
Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/108>, abgerufen am 29.04.2024.