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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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wahre Jugend war jetzt erst angebrochen. Es ist das Glück, was sie so verschönert, sagte man, und eigentlich hatte man damit auch Recht. Es war das Glück, das Glück, aus dem langweiligen täglichen Einerlei heimlich hinauszuschlüpfen in die freie Welt der Leidenschaft, und das es heimlich geschehen mußte, das eine solche Gefahr damit verbunden war, das konnte für Leonie dieses Glück nur erhöhen.

Bis jetzt bestand es indessen mehr in den kühnen Sprüngen ihrer Phantasie; nichts war vorgefallen, was ihre Voraussetzungen zu einer solchen Sicherheit berechtigte. Aber Leonie war mit dem unfehlbaren Instinct begabt, der dem Genie zugetheilt ist. Mit der still zuwartenden Geduld einer Spinne in ihrem sicheren Versteck sah sie ihn kommen, erst oft, stets in Begleitung seiner Braut, dann seltener, dann wieder öfter, und wenn auch nur auf Minuten, doch allein. Sie sah ihn düsterer werden, wie die Zeit verging. Manchmal blieb er Wochen aus, dann kam er wieder, trüber und unglücklicher als zuvor.

Und waren das nicht sichere Anzeichen von dem allmählichen Wachsen ihrer Gewalt über ihn? Sie wäre nicht so sicher gewesen, hatte er sich weniger widersetzt. Und wie ruhig sah sie dabei aus! Mit welcher Sicherheit vollkommener Unschuld ging sie den Weg, der sie immer wieder zu ihm zurückführte, wie der Zufall des gesellschaftlichen Lebens sie zusammenwarf. Was that sie denn so Verwerfliches? Sie ließ ihn freilich kommen, aber konnte sie denn verhindern, daß er kam? Wer hätte ihr nur das Geringste vorwerfen können? Der Faden, durch den sie ihn nach und nach, aber sicher, an sich zog, den sah kein Mensch, den sah er selber nicht. Und wie deutlich waren nicht die Spuren des Kampfes auf seiner Stirne zu sehen! Wie finster saß er oft ihr gegenüber, wenn sie in ihrer nachlässig lächelnden Trägheit den Weihrauch einsog, den ihr die Männer, die sich um sie drängten, so gern

wahre Jugend war jetzt erst angebrochen. Es ist das Glück, was sie so verschönert, sagte man, und eigentlich hatte man damit auch Recht. Es war das Glück, das Glück, aus dem langweiligen täglichen Einerlei heimlich hinauszuschlüpfen in die freie Welt der Leidenschaft, und das es heimlich geschehen mußte, das eine solche Gefahr damit verbunden war, das konnte für Leonie dieses Glück nur erhöhen.

Bis jetzt bestand es indessen mehr in den kühnen Sprüngen ihrer Phantasie; nichts war vorgefallen, was ihre Voraussetzungen zu einer solchen Sicherheit berechtigte. Aber Leonie war mit dem unfehlbaren Instinct begabt, der dem Genie zugetheilt ist. Mit der still zuwartenden Geduld einer Spinne in ihrem sicheren Versteck sah sie ihn kommen, erst oft, stets in Begleitung seiner Braut, dann seltener, dann wieder öfter, und wenn auch nur auf Minuten, doch allein. Sie sah ihn düsterer werden, wie die Zeit verging. Manchmal blieb er Wochen aus, dann kam er wieder, trüber und unglücklicher als zuvor.

Und waren das nicht sichere Anzeichen von dem allmählichen Wachsen ihrer Gewalt über ihn? Sie wäre nicht so sicher gewesen, hatte er sich weniger widersetzt. Und wie ruhig sah sie dabei aus! Mit welcher Sicherheit vollkommener Unschuld ging sie den Weg, der sie immer wieder zu ihm zurückführte, wie der Zufall des gesellschaftlichen Lebens sie zusammenwarf. Was that sie denn so Verwerfliches? Sie ließ ihn freilich kommen, aber konnte sie denn verhindern, daß er kam? Wer hätte ihr nur das Geringste vorwerfen können? Der Faden, durch den sie ihn nach und nach, aber sicher, an sich zog, den sah kein Mensch, den sah er selber nicht. Und wie deutlich waren nicht die Spuren des Kampfes auf seiner Stirne zu sehen! Wie finster saß er oft ihr gegenüber, wenn sie in ihrer nachlässig lächelnden Trägheit den Weihrauch einsog, den ihr die Männer, die sich um sie drängten, so gern

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[0085] wahre Jugend war jetzt erst angebrochen. Es ist das Glück, was sie so verschönert, sagte man, und eigentlich hatte man damit auch Recht. Es war das Glück, das Glück, aus dem langweiligen täglichen Einerlei heimlich hinauszuschlüpfen in die freie Welt der Leidenschaft, und das es heimlich geschehen mußte, das eine solche Gefahr damit verbunden war, das konnte für Leonie dieses Glück nur erhöhen. Bis jetzt bestand es indessen mehr in den kühnen Sprüngen ihrer Phantasie; nichts war vorgefallen, was ihre Voraussetzungen zu einer solchen Sicherheit berechtigte. Aber Leonie war mit dem unfehlbaren Instinct begabt, der dem Genie zugetheilt ist. Mit der still zuwartenden Geduld einer Spinne in ihrem sicheren Versteck sah sie ihn kommen, erst oft, stets in Begleitung seiner Braut, dann seltener, dann wieder öfter, und wenn auch nur auf Minuten, doch allein. Sie sah ihn düsterer werden, wie die Zeit verging. Manchmal blieb er Wochen aus, dann kam er wieder, trüber und unglücklicher als zuvor. Und waren das nicht sichere Anzeichen von dem allmählichen Wachsen ihrer Gewalt über ihn? Sie wäre nicht so sicher gewesen, hatte er sich weniger widersetzt. Und wie ruhig sah sie dabei aus! Mit welcher Sicherheit vollkommener Unschuld ging sie den Weg, der sie immer wieder zu ihm zurückführte, wie der Zufall des gesellschaftlichen Lebens sie zusammenwarf. Was that sie denn so Verwerfliches? Sie ließ ihn freilich kommen, aber konnte sie denn verhindern, daß er kam? Wer hätte ihr nur das Geringste vorwerfen können? Der Faden, durch den sie ihn nach und nach, aber sicher, an sich zog, den sah kein Mensch, den sah er selber nicht. Und wie deutlich waren nicht die Spuren des Kampfes auf seiner Stirne zu sehen! Wie finster saß er oft ihr gegenüber, wenn sie in ihrer nachlässig lächelnden Trägheit den Weihrauch einsog, den ihr die Männer, die sich um sie drängten, so gern

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/85>, abgerufen am 28.04.2024.