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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von dem Ursprunge und Anfange der Kunst.
Homero aber ist alles gemalet, und zur Malerey erdichtet und geschaffen.
Je wärmer die Länder in Italien sind, desto größere Talente bringen sie
hervor, und desto feuriger ist die Einbildung, und die Sicilianischen
Dichter sind voll von seltenen, neuen und unerwarteten Bildern. Diese
feurige Einbildung aber ist nicht aufgebracht und aufwallend, sondern wie
das Temperament der Menschen, und wie die Witterung dieser Länder ist,
mehr gleich, als in kälteren Ländern: denn ein glückliches Phlegma wirket
die Natur häufiger hier, als dort.

Wenn ich von der natürlichen Fähigkeit dieser Nation zur KunstG. Nähere
Bestimmung
dieser Gedan-
ken.

rede, so schließe ich dadurch diese Fähigkeit in einzelnen oder vielen unter
andern Völkern nicht aus, als welches wider die offenbare Erfahrung
seyn würde. Denn Holbein und Albrecht Dürrer, die Väter der Kunst
in Deutschland, haben ein erstaunendes Talent in derselben gezeiget, und
wenn sie, wie Raphael, Correggio und Titian, aus den Werken der Alten
hätten lernen können, würden sie eben so groß, wie diese, geworden seyn, ja
diese vielleicht übertroffen haben. Denn auch Correggio ist nicht, wie es
insgemein heißt, ohne Kenntniß des Alterthums zu seiner Größe gelan-
get: dessen Meister Andreas Mantegna kannte dasselbe, und es finden
sich von dessen Zeichnungen nach alten Statuen, in der großen Samm-
lung des Herrn Cardinal Alexander Albani; daher ihm 1) Felicianus
eine Sammlung alter Inschriften zueignete. Mantegna war in dieser
Nachricht 2) dem älteren Burmann ganz und gar unbekannt. Ob der
Mangel der Maler unter den Engelländern, welche keinen einzigen berühm-

ten
1) Pignor. Symbol. epist. p. 19.
2) Praef. ad Inser. Grut. p. 3.
D 3

Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt.
Homero aber iſt alles gemalet, und zur Malerey erdichtet und geſchaffen.
Je waͤrmer die Laͤnder in Italien ſind, deſto groͤßere Talente bringen ſie
hervor, und deſto feuriger iſt die Einbildung, und die Sicilianiſchen
Dichter ſind voll von ſeltenen, neuen und unerwarteten Bildern. Dieſe
feurige Einbildung aber iſt nicht aufgebracht und aufwallend, ſondern wie
das Temperament der Menſchen, und wie die Witterung dieſer Laͤnder iſt,
mehr gleich, als in kaͤlteren Laͤndern: denn ein gluͤckliches Phlegma wirket
die Natur haͤufiger hier, als dort.

Wenn ich von der natuͤrlichen Faͤhigkeit dieſer Nation zur KunſtG. Naͤhere
Beſtimmung
dieſer Gedan-
ken.

rede, ſo ſchließe ich dadurch dieſe Faͤhigkeit in einzelnen oder vielen unter
andern Voͤlkern nicht aus, als welches wider die offenbare Erfahrung
ſeyn wuͤrde. Denn Holbein und Albrecht Duͤrrer, die Vaͤter der Kunſt
in Deutſchland, haben ein erſtaunendes Talent in derſelben gezeiget, und
wenn ſie, wie Raphael, Correggio und Titian, aus den Werken der Alten
haͤtten lernen koͤnnen, wuͤrden ſie eben ſo groß, wie dieſe, geworden ſeyn, ja
dieſe vielleicht uͤbertroffen haben. Denn auch Correggio iſt nicht, wie es
insgemein heißt, ohne Kenntniß des Alterthums zu ſeiner Groͤße gelan-
get: deſſen Meiſter Andreas Mantegna kannte daſſelbe, und es finden
ſich von deſſen Zeichnungen nach alten Statuen, in der großen Samm-
lung des Herrn Cardinal Alexander Albani; daher ihm 1) Felicianus
eine Sammlung alter Inſchriften zueignete. Mantegna war in dieſer
Nachricht 2) dem aͤlteren Burmann ganz und gar unbekannt. Ob der
Mangel der Maler unter den Engellaͤndern, welche keinen einzigen beruͤhm-

ten
1) Pignor. Symbol. epiſt. p. 19.
2) Præf. ad Inſer. Grut. p. 3.
D 3
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[29/0079] Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt. Homero aber iſt alles gemalet, und zur Malerey erdichtet und geſchaffen. Je waͤrmer die Laͤnder in Italien ſind, deſto groͤßere Talente bringen ſie hervor, und deſto feuriger iſt die Einbildung, und die Sicilianiſchen Dichter ſind voll von ſeltenen, neuen und unerwarteten Bildern. Dieſe feurige Einbildung aber iſt nicht aufgebracht und aufwallend, ſondern wie das Temperament der Menſchen, und wie die Witterung dieſer Laͤnder iſt, mehr gleich, als in kaͤlteren Laͤndern: denn ein gluͤckliches Phlegma wirket die Natur haͤufiger hier, als dort. Wenn ich von der natuͤrlichen Faͤhigkeit dieſer Nation zur Kunſt rede, ſo ſchließe ich dadurch dieſe Faͤhigkeit in einzelnen oder vielen unter andern Voͤlkern nicht aus, als welches wider die offenbare Erfahrung ſeyn wuͤrde. Denn Holbein und Albrecht Duͤrrer, die Vaͤter der Kunſt in Deutſchland, haben ein erſtaunendes Talent in derſelben gezeiget, und wenn ſie, wie Raphael, Correggio und Titian, aus den Werken der Alten haͤtten lernen koͤnnen, wuͤrden ſie eben ſo groß, wie dieſe, geworden ſeyn, ja dieſe vielleicht uͤbertroffen haben. Denn auch Correggio iſt nicht, wie es insgemein heißt, ohne Kenntniß des Alterthums zu ſeiner Groͤße gelan- get: deſſen Meiſter Andreas Mantegna kannte daſſelbe, und es finden ſich von deſſen Zeichnungen nach alten Statuen, in der großen Samm- lung des Herrn Cardinal Alexander Albani; daher ihm 1) Felicianus eine Sammlung alter Inſchriften zueignete. Mantegna war in dieſer Nachricht 2) dem aͤlteren Burmann ganz und gar unbekannt. Ob der Mangel der Maler unter den Engellaͤndern, welche keinen einzigen beruͤhm- ten G. Naͤhere Beſtimmung dieſer Gedan- ken. 1) Pignor. Symbol. epiſt. p. 19. 2) Præf. ad Inſer. Grut. p. 3. D 3

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/79>, abgerufen am 29.04.2024.