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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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So fest in den Bezirk gebannt, pwo_137.002
Daß sie dem Tode gleich erlagen, pwo_137.003
Verließen sie den schatt'gen Wald, pwo_137.004
Müßt' ich auch sterben alsobald, pwo_137.005
Könnt' ich der treu'sten Lieb' entfliehn."
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Ein Kuß vom Munde seiner Schönen entlockt Bernart von Ventadour pwo_137.007
die geistreiche Wendung:

pwo_137.008
"Nie dacht' ich, daß mich der Genuß pwo_137.009
Des schönen Mundes brächt' in Not, pwo_137.010
Doch küssend gab er mir den Tod, pwo_137.011
Wo nicht mich heilt ein zweiter Kuß: pwo_137.012
So ist er, da dies ihm eigen, pwo_137.013
Peleus Lanze zu vergleichen, pwo_137.014
Von der ein Stich nur dann genesen ließ, pwo_137.015
Wenn man sie nochmals in die Wunde stieß."
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Ob all die so in der provenzalischen Lyrik auftauchenden Gestalten in pwo_137.017
der langue d'oc selbst Behandlung gefunden oder die Berufungen pwo_137.018
sich zum teil auf nordfranzösische Quellen stützen, mag dahingestellt pwo_137.019
bleiben. Jmmerhin legt auch der Hinweis unseres Wolfram von pwo_137.020
Eschenbach auf den Provenzalen Guiot als - sei es selbst unmittelbare pwo_137.021
- Quelle für seinen Parzival die Erwägung nahe, die epische pwo_137.022
Thätigkeit der Provenzalen nicht gering zu achten.

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Wie durch solche Zeugnisse ein Zusammenhang mit der epischen pwo_137.024
Dichtung zunächst äußerlich belegt wird, läßt sich auch die Priorität pwo_137.025
vorlitterarischer Weisen aus der Troubadourdichtung erschließen. pwo_137.026
An dem Unterschied zwischen Vers und Kanzone tritt hervor, daß der pwo_137.027
Vers sich an die einfache Form einer früheren primitiveren Lyrik anschließt. pwo_137.028
Der Vers bestand aus Kurzzeilen von meist nur vier Hebungen pwo_137.029
und in der Regel männlichem Reim sowie gedehnter Melodie. pwo_137.030
Jn den Gesängen der ältesten Troubadours herrscht diese einfache pwo_137.031
Form noch vor; auch wird es ausdrücklich als Kennzeichen des Alters pwo_137.032
hervorgehoben, daß einem Troubadour die Kanzone noch unbekannt pwo_137.033
gewesen. Schließlich hat sich jener viermal gehobene jambische Vers pwo_137.034
in dem volkstümlichen Fabliau erhalten.

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Jnnerlich bekundet sich der Zusammenhang mit ursprünglicher pwo_137.036
Lyrik, namentlich mit dem religiösen Lied, durch Uebernahme des pwo_137.037
Refräns. Daß gerade Balladen und andere Tanzlieder ihn begünstigen,

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Verließen sie den schatt'gen Wald, pwo_137.004
Müßt' ich auch sterben alsobald, pwo_137.005
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Peleus Lanze zu vergleichen, pwo_137.014
Von der ein Stich nur dann genesen ließ, pwo_137.015
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Thätigkeit der Provenzalen nicht gering zu achten.

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[137/0151] pwo_137.001 So fest in den Bezirk gebannt, pwo_137.002 Daß sie dem Tode gleich erlagen, pwo_137.003 Verließen sie den schatt'gen Wald, pwo_137.004 Müßt' ich auch sterben alsobald, pwo_137.005 Könnt' ich der treu'sten Lieb' entfliehn.“ pwo_137.006 Ein Kuß vom Munde seiner Schönen entlockt Bernart von Ventadour pwo_137.007 die geistreiche Wendung: pwo_137.008 „Nie dacht' ich, daß mich der Genuß pwo_137.009 Des schönen Mundes brächt' in Not, pwo_137.010 Doch küssend gab er mir den Tod, pwo_137.011 Wo nicht mich heilt ein zweiter Kuß: pwo_137.012 So ist er, da dies ihm eigen, pwo_137.013 Peleus Lanze zu vergleichen, pwo_137.014 Von der ein Stich nur dann genesen ließ, pwo_137.015 Wenn man sie nochmals in die Wunde stieß.“ pwo_137.016 Ob all die so in der provenzalischen Lyrik auftauchenden Gestalten in pwo_137.017 der langue d'oc selbst Behandlung gefunden oder die Berufungen pwo_137.018 sich zum teil auf nordfranzösische Quellen stützen, mag dahingestellt pwo_137.019 bleiben. Jmmerhin legt auch der Hinweis unseres Wolfram von pwo_137.020 Eschenbach auf den Provenzalen Guiot als – sei es selbst unmittelbare pwo_137.021 – Quelle für seinen Parzival die Erwägung nahe, die epische pwo_137.022 Thätigkeit der Provenzalen nicht gering zu achten. pwo_137.023   Wie durch solche Zeugnisse ein Zusammenhang mit der epischen pwo_137.024 Dichtung zunächst äußerlich belegt wird, läßt sich auch die Priorität pwo_137.025 vorlitterarischer Weisen aus der Troubadourdichtung erschließen. pwo_137.026 An dem Unterschied zwischen Vers und Kanzone tritt hervor, daß der pwo_137.027 Vers sich an die einfache Form einer früheren primitiveren Lyrik anschließt. pwo_137.028 Der Vers bestand aus Kurzzeilen von meist nur vier Hebungen pwo_137.029 und in der Regel männlichem Reim sowie gedehnter Melodie. pwo_137.030 Jn den Gesängen der ältesten Troubadours herrscht diese einfache pwo_137.031 Form noch vor; auch wird es ausdrücklich als Kennzeichen des Alters pwo_137.032 hervorgehoben, daß einem Troubadour die Kanzone noch unbekannt pwo_137.033 gewesen. Schließlich hat sich jener viermal gehobene jambische Vers pwo_137.034 in dem volkstümlichen Fabliau erhalten. pwo_137.035   Jnnerlich bekundet sich der Zusammenhang mit ursprünglicher pwo_137.036 Lyrik, namentlich mit dem religiösen Lied, durch Uebernahme des pwo_137.037 Refräns. Daß gerade Balladen und andere Tanzlieder ihn begünstigen,

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/151>, abgerufen am 29.04.2024.