Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_139.001
"Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr pwo_139.002
Hier schmachten muß in Haft."
pwo_139.003

Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein:

pwo_139.004
"Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: pwo_139.005
Tot und gefangen thut man niemand leid."
pwo_139.006

Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur pwo_139.007
daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache pwo_139.008
seiner Gefühle durchschlungen sind:

pwo_139.009
"Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: pwo_139.010
Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr pwo_139.011
Und denket unsers Eides nimmermehr" etc.
pwo_139.012

Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die pwo_139.013
eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer pwo_139.014
Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das pwo_139.015
Lied ein:

pwo_139.016
"Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt pwo_139.017
Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt, pwo_139.018
Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt. pwo_139.019
Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"
pwo_139.020

Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung pwo_139.021
lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe pwo_139.022
zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit pwo_139.023
der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt:

pwo_139.024
"Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!"
pwo_139.025

Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel pwo_139.026
aufdrückt und seitdem - auch bei uns in Deutschland - zum Hauptgegenstand pwo_139.027
lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen pwo_139.028
ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. pwo_139.029
Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine pwo_139.030
rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles pwo_139.031
Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche pwo_139.032
Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit pwo_139.033
poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung pwo_139.034
verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene pwo_139.035
Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines

pwo_139.001
„Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr pwo_139.002
Hier schmachten muß in Haft.“
pwo_139.003

Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein:

pwo_139.004
„Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: pwo_139.005
Tot und gefangen thut man niemand leid.“
pwo_139.006

Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur pwo_139.007
daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache pwo_139.008
seiner Gefühle durchschlungen sind:

pwo_139.009
„Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: pwo_139.010
Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr pwo_139.011
Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc.
pwo_139.012

Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die pwo_139.013
eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer pwo_139.014
Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das pwo_139.015
Lied ein:

pwo_139.016
„Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt pwo_139.017
Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt, pwo_139.018
Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt. pwo_139.019
  Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“
pwo_139.020

Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung pwo_139.021
lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe pwo_139.022
zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit pwo_139.023
der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt:

pwo_139.024
„Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“
pwo_139.025

  Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel pwo_139.026
aufdrückt und seitdem – auch bei uns in Deutschland – zum Hauptgegenstand pwo_139.027
lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen pwo_139.028
ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. pwo_139.029
Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine pwo_139.030
rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles pwo_139.031
Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche pwo_139.032
Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit pwo_139.033
poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung pwo_139.034
verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene pwo_139.035
Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0153" n="139"/>
            <lb n="pwo_139.001"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Doch weiß ich wohl, daß ich <hi rendition="#g">nicht lange mehr</hi></l>
              <lb n="pwo_139.002"/>
              <l>Hier schmachten muß in Haft.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_139.003"/>
            <p>Leicht mengt sich nun eine <hi rendition="#g">allgemeine</hi> Betrachtung ein:</p>
            <lb n="pwo_139.004"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit:</l>
              <lb n="pwo_139.005"/>
              <l>Tot und gefangen thut man niemand leid.&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_139.006"/>
            <p>Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur <lb n="pwo_139.007"/>
daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache <lb n="pwo_139.008"/>
seiner Gefühle durchschlungen sind:</p>
            <lb n="pwo_139.009"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer:</l>
              <lb n="pwo_139.010"/>
              <l>Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr</l>
              <lb n="pwo_139.011"/>
              <l>Und denket unsers Eides nimmermehr&#x201C; etc.</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_139.012"/>
            <p>Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die <lb n="pwo_139.013"/>
eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer <lb n="pwo_139.014"/>
Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das <lb n="pwo_139.015"/>
Lied ein:</p>
            <lb n="pwo_139.016"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt</l>
              <lb n="pwo_139.017"/>
              <l>Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt,</l>
              <lb n="pwo_139.018"/>
              <l>Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt.</l>
              <lb n="pwo_139.019"/>
              <l>  Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_139.020"/>
            <p>Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein <hi rendition="#g">Ausruf,</hi> spitzt die Erzählung <lb n="pwo_139.021"/>
lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe <lb n="pwo_139.022"/>
zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit <lb n="pwo_139.023"/>
der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt:</p>
            <lb n="pwo_139.024"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!&#x201C;</l>
            </lg>
            <lb n="pwo_139.025"/>
            <p>  Die <hi rendition="#g">Liebe</hi> ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel <lb n="pwo_139.026"/>
aufdrückt und seitdem &#x2013; auch bei uns in Deutschland &#x2013; zum Hauptgegenstand <lb n="pwo_139.027"/>
lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen <lb n="pwo_139.028"/>
ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. <lb n="pwo_139.029"/>
Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine <lb n="pwo_139.030"/>
rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles <lb n="pwo_139.031"/>
Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche <lb n="pwo_139.032"/>
Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit <lb n="pwo_139.033"/>
poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung <lb n="pwo_139.034"/>
verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene <lb n="pwo_139.035"/>
Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[139/0153] pwo_139.001 „Doch weiß ich wohl, daß ich nicht lange mehr pwo_139.002 Hier schmachten muß in Haft.“ pwo_139.003 Leicht mengt sich nun eine allgemeine Betrachtung ein: pwo_139.004 „Wohl ist es mir gewiß zu dieser Zeit: pwo_139.005 Tot und gefangen thut man niemand leid.“ pwo_139.006 Jm übrigen bleibt die Darstellung individuell beziehungsreich, nur pwo_139.007 daß äußere Thatsachen aus Richards Leben von direkter Aussprache pwo_139.008 seiner Gefühle durchschlungen sind: pwo_139.009 „Kein Wunder, daß mein Herz von Kummer schwer: pwo_139.010 Mein Herr drängt ja das Land mir allzusehr pwo_139.011 Und denket unsers Eides nimmermehr“ etc. pwo_139.012 Noch unmittelbarer bringt der Refrän des bekannten Tageliedes die pwo_139.013 eine fortdauernde Grundempfindung inmitten von epischer und epischdramatischer pwo_139.014 Darstellung zum Ausdruck. Rein erzählend setzt das pwo_139.015 Lied ein: pwo_139.016 „Jn einem Garten, unterm Weißdornzelt pwo_139.017 Jst die Geliebte mit dem Freund gesellt, pwo_139.018 Bis daß des Wächters Warnungszeichen gellt. pwo_139.019   Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“ pwo_139.020 Erst dieser Refrän, bezeichnenderweise ein Ausruf, spitzt die Erzählung pwo_139.021 lyrisch zu. Jn direkter Rede entspinnt sich nun von Strophe pwo_139.022 zu Strophe zwar eine gewisse Wandlung der Scene, doch immer mit pwo_139.023 der einen Grundsituation, die der Geliebten den Wunschruf entlockt: pwo_139.024 „Ach Gott, ach Gott, wie kommt der Tag so früh!“ pwo_139.025   Die Liebe ist es, welche dieser Lyrik vor allem ihren Stempel pwo_139.026 aufdrückt und seitdem – auch bei uns in Deutschland – zum Hauptgegenstand pwo_139.027 lyrischer, in der Folge aller poetischen Darstellung erwachsen pwo_139.028 ist, wie es vordem die Kampfeslust und nationale Thatkraft gewesen. pwo_139.029 Die Liebe aber, wie sie sich hier ausspricht, ist nicht eine pwo_139.030 rein natürliche Empfindung, sondern zum guten teil ein konventionelles pwo_139.031 Spiel der Phantasie, das seine Absicht denn auch nicht auf das natürliche pwo_139.032 Ziel der Liebe, auf die Ehe, richtet, sondern sich entweder mit pwo_139.033 poetischer Verherrlichung und Huldigung begnügt oder sich in Ausschweifung pwo_139.034 verliert. Wohl in den meisten Fällen war die besungene pwo_139.035 Dame bereits vermählt. Oft handelt es sich um die Gattin eines

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/153
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/153>, abgerufen am 29.04.2024.