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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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eintrat, veranlaßte die Dichter, durch Häufung von Gräuelthaten die pwo_186.002
Nerven anzureizen. Vor allem gelangt das Jntriguenstück mit seiner pwo_186.003
künstlichen Verwicklung zur Aufnahme; der große Zug des nationalen pwo_186.004
Kampfes gegen den Erbfeind ist dahingeschwunden, List und Raffinement pwo_186.005
knüpfen den Faden der Handlung. Um so tiefer verharrt die pwo_186.006
Tragödie in epischen Elementen. Wie die Blüte der griechischen pwo_186.007
Tragödie in die Zeit von Athens Vorherrschaft fällt, so schwindet sie pwo_186.008
mit ihr dahin.

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Die Technik der griechischen Tragödie.
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Schon dieser Ueberblick zeigt uns, wie scharf sich hier das Grundgesetz pwo_186.012
aller ästhetischen Anschauung ausprägt: daß die poetischen Erscheinungen pwo_186.013
nicht starren, einheitlichen Regeln gehorchen, sondern pwo_186.014
organisch fließender Entwicklung unterworfen sind. Fließend sind denn pwo_186.015
vor allem die Linien des äußeren Baus der griechischen Tragödie pwo_186.016
selbst in dem engen und entscheidenden Zeitraum von Thespis bis pwo_186.017
zur klassischen Periode und innerhalb dieser zwischen ihren drei pwo_186.018
Hauptträgern.

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Eine Erkenntnis der dramatischen Technik bei den Griechen bleibt pwo_186.020
unhistorisch, sofern sie sich nicht auf die wechselnde Rolle stützt, welche pwo_186.021
der Chor im dramatischen Gefüge spielt. Zunächst giebt er von seiner pwo_186.022
ursprünglichen Alleinherrschaft dem Einzelaktor nur geringen Raum pwo_186.023
zur Bethätigung ab. Wir konnten verfolgen, wie sich dies räumliche pwo_186.024
Verhältnis allmählich umkehrt. Auch bahnte sich eine vielversprechende pwo_186.025
Entwicklung an, indem Aeschylos den Chor als organisches Glied in pwo_186.026
die Handlung hineinzog, ihm eine bestimmte Rolle, einen ausgeprägten pwo_186.027
Charakter verlieh. Bilden doch in den "Eumeniden" die Rachegöttinnen pwo_186.028
selbst den Chor, in den "Schutzflehenden" die Danaiden, pwo_186.029
im "Gefesselten Prometheus" die Okeaniden u. s. f. Sophokles bricht pwo_186.030
dieser an sich heilsamen Entwicklung die Spitze ab, indem er dem pwo_186.031
Chor eine ruhig abwartende und nur betrachtende Teilnahme zuweist. pwo_186.032
Die weitere Folge einer solchen Maßregel konnte nun freilich die Abschaffung pwo_186.033
des Chors ohne wesentliche Störung des dramatischen Organismus pwo_186.034
sein. Euripides übernimmt ihn indes als gegebenen Faktor,

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  Schon dieser Ueberblick zeigt uns, wie scharf sich hier das Grundgesetz pwo_186.012
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nicht starren, einheitlichen Regeln gehorchen, sondern pwo_186.014
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unhistorisch, sofern sie sich nicht auf die wechselnde Rolle stützt, welche pwo_186.021
der Chor im dramatischen Gefüge spielt. Zunächst giebt er von seiner pwo_186.022
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Chor eine ruhig abwartende und nur betrachtende Teilnahme zuweist. pwo_186.032
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/200>, abgerufen am 29.04.2024.