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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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doch nicht vereinzelt ist, so bringt sein Fall die Macht des Verhängnisses pwo_191.002
überhaupt zur Erkenntnis:

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"Wo endet es je? wo findet noch Ruh pwo_191.004
Die besänftigte Macht des Verderbens?"
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Was die griechische Tragödie heraushebt und vermittelt, ist der leidende pwo_191.006
Grundzug des Menschenlebens:

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"O dieses Menschenleben! - wenn es glücklich ist, pwo_191.008
Ein Schatten stört es; ist es kummervoll, so tilgt pwo_191.009
Ein feuchter Schwamm dies Bild, und alle Welt vergißt's; pwo_191.010
Und mehr denn jenes schmerzt mich dies: vergessen ist's! -"
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§ 78. pwo_191.012
Die Anfänge des modernen Dramas.
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Auch das Drama der modernen Völker läßt sich allerorten auf pwo_191.014
religiösen und epischen Ursprung zurückverfolgen. Aus dem pwo_191.015
christlichen Kultus ist es herausgewachsen: mit der christlichen Weltanschauung pwo_191.016
schon dadurch aufs engste verknüpft. Der Bericht der pwo_191.017
Bibel wurde durch scenische Veranschaulichung vergegenwärtigt: so pwo_191.018
wird der Gang der modernen Tragödie eine Loslösung vom Epischen, pwo_191.019
ein Begreifen der Ueberlieferung, weiterhin des Weltlaufs, im Geiste pwo_191.020
des Christentums.

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Die geistlichen Spiele der germanischen und romanischen Völker pwo_191.022
sind aus der Passionsgeschichte hervorgegangen. Die Evangelien vom pwo_191.023
Leiden Christi, wie sie zur Passionszeit in der Kirche vorgetragen pwo_191.024
wurden, bildeten den ersten und wesentlichsten Ansatzpunkt für die pwo_191.025
neue Gattung. Die katholische Kirche legte auf ästhetische Ausgestaltung pwo_191.026
des Kultus besonderes Gewicht. Namentlich gehörte es zur bewährten pwo_191.027
Kirchenpolitik, heidnische Dichtungen und Lustbarkeiten durch pwo_191.028
christlich gefärbte zu ersetzen. Es scheint, daß man primitive heidnische pwo_191.029
Aufzüge verdrängen wollte, als man sich entschloß, scenische pwo_191.030
Bewegung in die Kirche einzuführen. Zunächst schritt der (lateinische) pwo_191.031
Gottesdienst zu kunstvollem Wechselgesang zwecks Belebung der Evangelien pwo_191.032
vor - von deren äußerer Einrichtung noch moderne Passionskompositionen pwo_191.033
wie die von Bach eine Vorstellung geben. Die Rollen pwo_191.034
des Heilands und der übrigen Hauptpersonen wurden verteilt gesungen,

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Die Anfänge des modernen Dramas.
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  Auch das Drama der modernen Völker läßt sich allerorten auf pwo_191.014
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sind aus der Passionsgeschichte hervorgegangen. Die Evangelien vom pwo_191.023
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/205>, abgerufen am 29.04.2024.