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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Jn der antiken und romanischen Tragödie herrschen die Ereignisse, pwo_202.002
und typische Menschen werden von ihnen gelenkt. Unhistorisch pwo_202.003
wäre es, dem gegenüber im germanischen Trauerspiel, besonders im pwo_202.004
englischen, die schroff ausgeprägte Herrschaft des Jndividuums über pwo_202.005
das Schicksal sehen zu wollen. Gewiß wirken germanischer und protestantischer pwo_202.006
Geist zusammen, um die Entwicklung auf dieses Ziel hinzulenken. pwo_202.007
Der Masseninstinkt ist bei den romanischen, die Jndividualität, pwo_202.008
das Jchgefühl bei den germanischen Völkern stärker ausgebildet. pwo_202.009
Die Reformation erkennt die Freiheit eines Christenmenschen pwo_202.010
an. Da sucht denn das englische Trauerspiel ein neues pwo_202.011
Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schicksal zu gewinnen. pwo_202.012
Die Strenge der germanisch-protestantischen Weltanschauung läßt das pwo_202.013
Gefühl der Verantwortung aufdämmern, und man beginnt angesichts pwo_202.014
der tragischen Geschehnisse, angesichts des Leidens und des pwo_202.015
Untergangs zu fragen, inwieweit ein Zusammenhang mit der individuellen pwo_202.016
Anlage des Charakters ersichtlich ist.

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Eine induktive Betrachtung darf nicht verkennen, daß so und pwo_202.018
nicht umgekehrt der Weg selbst eines Shakespeare geht. Wie eine pwo_202.019
ewige Krankheit der Shakespeare-Forschung erbt sich der Versuch fort, pwo_202.020
die Handlung in all ihren Teilen mit Notwendigkeit aus dem Charakter pwo_202.021
zu folgern. Erfand aber der englische Dichterkönig die Handlung pwo_202.022
zur Jllustrierung eines bestimmten, ihm feststehenden Charakters? pwo_202.023
Vielmehr hat er die Fabel übernommen, überdies zumeist direkt oder pwo_202.024
doch indirekt aus novellistischen, epischen Quellen, und sein geniales pwo_202.025
Eingreifen bestrebt sich wesentlich dahin, den überlieferten Charakter pwo_202.026
so auszubauen, daß die Handlung nicht länger zufällig, sondern, wennschon pwo_202.027
nicht notwendig, doch glaubhaft erscheint.

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Man denke an "Romeo und Julia": wer wollte behaupten oder pwo_202.029
doch beweisen, das junge, feurige Liebespaar gehe ausschließlich an pwo_202.030
seinem Charakter zugrunde, ja der Tod sei die notwendige Folge der pwo_202.031
schuldbeladenen oder wenigstens verhängnisvollen Charaktere? Nennt pwo_202.032
Capulet die Unglücklichen doch ausdrücklich "die armen Opfer unserer pwo_202.033
Zwistigkeiten", und der Prinz schließt:

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"... Niemals gab es ein so herbes Los, pwo_202.035
Als Juliens und ihres Romeos."
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Jst die Feindschaft der Eltern ihre Schuld? sind Romeo und Julia

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  Jn der antiken und romanischen Tragödie herrschen die Ereignisse, pwo_202.002
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/216>, abgerufen am 29.04.2024.