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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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keiner Jllustrierung. Wie Faust gerade von dem dämonischen pwo_212.002
Trieb erfüllt ist, all "der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen", pwo_212.003
vermißt er sich, nimmer in Genuß zu ersticken, immer unbefriedigt pwo_212.004
vorwärtszustürmen. Ausschlaggebend für die Konsequenz, mit pwo_212.005
welcher der Dichter Fausts Schicksal aus der Charakterentwicklung seines pwo_212.006
Helden herleiten will, ist nun bereits der scharf auf die Bedingung pwo_212.007
der Katastrophe zugespitzte Wortlaut der Wette:

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"Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, pwo_212.009
So sei es gleich um mich gethan! pwo_212.010
Kannst du mich schmeichelnd je belügen, pwo_212.011
Daß ich mir selbst gefallen mag, pwo_212.012
Kannst du mich mit Genuß betrügen: pwo_212.013
Das sei für mich der letzte Tag! ... pwo_212.014
Werd' ich zum Augenblicke sagen: pwo_212.015
Verweile doch! du bist so schön! pwo_212.016
Dann magst du mich in Fesseln schlagen, pwo_212.017
Dann will ich gern zugrunde gehn!"
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Dem entsprechend endet Fausts Lebenslauf mit dem ersten Geständnis pwo_212.019
seiner Selbstzufriedenheit, mit dem ersten Wunsche, in einem schönen pwo_212.020
Moment zu verharren. Aber zu welcher sittlichen Höhe erhebt sich pwo_212.021
gerade diese Katastrophe! Gewiß, der Mensch, der kein weiteres Ziel pwo_212.022
vor Augen sieht, der im Genuß aufgehen will, lebt für die Menschheit pwo_212.023
umsonst: so ist auch Fausts Wirken und damit seinem Leben eine pwo_212.024
Grenze gesetzt, über die er nicht hinausstrebt, an der er sich zum pwo_212.025
Verweilen eingeladen fühlt. Jndes, nicht Versumpfung in unthätiger pwo_212.026
Genußsucht - wie sie bei der Wette d. h. der hypothetischen Hingabe pwo_212.027
an die höllischen Mächte vorschwebte - wird das Los dieses Helden pwo_212.028
männlicher Thatkraft. Worin er verharren will, ist die Entfesselung pwo_212.029
aller wirtschaftlichen Thatkraft, ist der tägliche Kampf um die Bedingungen pwo_212.030
des Lebens, ist das immer strebende Bemühen, das zur Erlösung pwo_212.031
führt. So schafft sich Faust im Sinne des konsequenten, des pwo_212.032
idealen Charakterdramas - sogar weiter als es der Realität entsprechen pwo_212.033
dürfte - sein Schicksal, auch sein letztes, selbst: aber das pwo_212.034
physische Ende zeigt den rechten Mann auf der Höhe der Vollendung:

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"Völlig vollendet pwo_212.036
Liegt der ruhende Greis, der Sterblichen herrliches Muster."
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Jn diesem Wort der "Achilleis" haben wir ein Bild des scheidenden

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keiner Jllustrierung. Wie Faust gerade von dem dämonischen pwo_212.002
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Dann will ich gern zugrunde gehn!“
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Dem entsprechend endet Fausts Lebenslauf mit dem ersten Geständnis pwo_212.019
seiner Selbstzufriedenheit, mit dem ersten Wunsche, in einem schönen pwo_212.020
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  „Völlig vollendet pwo_212.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/226>, abgerufen am 29.04.2024.