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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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sittlichen über den physischen Menschen, des Geistes über die Natur pwo_214.002
zu verkörpern habe. Freilich wird ihm diese idealistische Tendenz pwo_214.003
dermaßen zum alleinigen Selbstzweck, daß auch die individuelle Charakterschöpfung pwo_214.004
dahinter zurücktritt. Die Charakteristik dient nun nicht pwo_214.005
sowohl der Begründung der Handlung und der Katastrophe selbst als pwo_214.006
vielmehr dem ursprünglich sekundären Moment der sittlichen Erhebung pwo_214.007
in ihr.

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Hören wir Schillers eigene Worte, so gewinnt sein Stil sofort pwo_214.009
historische Beleuchtung: "So lange der Mensch noch reine, es versteht pwo_214.010
sich, nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit, pwo_214.011
und als ein harmonierendes Ganze ... Jst der Mensch in den pwo_214.012
Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn pwo_214.013
gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er pwo_214.014
kann nur noch als moralische Einheit, d. h. als nach Einheit strebend, pwo_214.015
sich äußern. Die Uebereinstimmung zwischen seinem Empfinden pwo_214.016
und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich stattfand, existiert pwo_214.017
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als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Thatsache pwo_214.019
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Diese Forderung ist aufgestellt, als Schiller in allen Teilen der pwo_214.021
Darstellung seinen Uebergang zum idealistischen Stil vollzog. Doch pwo_214.022
schon in seiner Jugendzeit mit ihrer naturalistischeren Menschenauffassung pwo_214.023
hat Schiller wenigstens das letzte Los sub specie aeterni pwo_214.024
gesehen, freilich noch in roheren, äußerlicheren Formen. Räuber Moor pwo_214.025
erfährt "am Rand eines entsetzlichen Lebens ... mit Zähnklappern pwo_214.026
und Heulen", daß zwei Menschen wie er "den ganzen Bau der sittlichen pwo_214.027
Welt zugrunde richten würden". - Und nun erlebt die staunende pwo_214.028
Welt das einzigartige Schauspiel, wie ein aufwärts gerichteter pwo_214.029
Geist auf Schwingen der Begeisterung mehr und mehr das Jrdische pwo_214.030
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"Jndessen schritt sein Geist gewaltig fort pwo_214.032
Jns Ewige des Wahren, Guten, Schönen, pwo_214.033
Und hinter ihm in wesenlosem Scheine pwo_214.034
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine."
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So hat Schiller durch die hehre Macht seiner tragischen Kunst die

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sittlichen über den physischen Menschen, des Geistes über die Natur pwo_214.002
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Darstellung seinen Uebergang zum idealistischen Stil vollzog. Doch pwo_214.022
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Jns Ewige des Wahren, Guten, Schönen, pwo_214.033
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/228>, abgerufen am 29.04.2024.