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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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II. Das Lustspiel.
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Begründung der Lustspielform.
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Mit dem Trauerspiel, obschon es sich stufenweise dramatischer pwo_219.005
entwickelt, ist noch nicht der Gipfel realer dramatischer Gestaltung erstiegen. pwo_219.006
Noch immer bleibt der Mensch nur bedingter Herr seines pwo_219.007
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Umständen, die nicht von ihm abhängen, schließlich zerschmettert. So pwo_219.009
ist der Held an der Ursache seines physischen Untergangs mitbeteiligt pwo_219.010
- nicht mehr. Darüber hinaus sucht das Jdeal des Charakterdramas, pwo_219.011
wie es den deutschen Klassikern vorschwebt, im sittlichen Sinne pwo_219.012
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zufallende Los in Beziehung zu seinem Charakter hinzustellen.

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und Beherrschung der Handlung durch die Charaktere unmittelbarer pwo_219.016
möglich, wo es sich um Charakterzüge handelt, durch welche pwo_219.017
nicht auch die eben außerhalb des Menschen mächtige und waltende pwo_219.018
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Neigungen und Schwächen, die Bethätigung des rein irdischen pwo_219.020
Lebensdranges, die Ordnung menschlicher Verhältnisse, das Leben der pwo_219.021
Menschen neben einander zur Geltung kommen. Nicht das Verhältnis pwo_219.022
des Menschen zur göttlichen Weltordnung, allein das zu den Mitmenschen pwo_219.023
dürfte in Frage kommen, wenn die Ereignisse sich in der pwo_219.024
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Gattung bildet sich in der Komödie aus.

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Begründung der Lustspielform.
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  Mit dem Trauerspiel, obschon es sich stufenweise dramatischer pwo_219.005
entwickelt, ist noch nicht der Gipfel realer dramatischer Gestaltung erstiegen. pwo_219.006
Noch immer bleibt der Mensch nur bedingter Herr seines pwo_219.007
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den Menschen zum vollen Herrn seines Schicksals zu machen, das ihm pwo_219.013
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  Jnnerhalb des rein menschlichen Bereichs ist eine solche Bestimmung pwo_219.015
und Beherrschung der Handlung durch die Charaktere unmittelbarer pwo_219.016
möglich, wo es sich um Charakterzüge handelt, durch welche pwo_219.017
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[E219/0233] pwo_219.001 II. Das Lustspiel. pwo_219.002 § 85. pwo_219.003 Begründung der Lustspielform. pwo_219.004   Mit dem Trauerspiel, obschon es sich stufenweise dramatischer pwo_219.005 entwickelt, ist noch nicht der Gipfel realer dramatischer Gestaltung erstiegen. pwo_219.006 Noch immer bleibt der Mensch nur bedingter Herr seines pwo_219.007 Schicksals: er bringt einen Stein ins Rollen, der ihn vermöge von pwo_219.008 Umständen, die nicht von ihm abhängen, schließlich zerschmettert. So pwo_219.009 ist der Held an der Ursache seines physischen Untergangs mitbeteiligt pwo_219.010 – nicht mehr. Darüber hinaus sucht das Jdeal des Charakterdramas, pwo_219.011 wie es den deutschen Klassikern vorschwebt, im sittlichen Sinne pwo_219.012 den Menschen zum vollen Herrn seines Schicksals zu machen, das ihm pwo_219.013 zufallende Los in Beziehung zu seinem Charakter hinzustellen. pwo_219.014   Jnnerhalb des rein menschlichen Bereichs ist eine solche Bestimmung pwo_219.015 und Beherrschung der Handlung durch die Charaktere unmittelbarer pwo_219.016 möglich, wo es sich um Charakterzüge handelt, durch welche pwo_219.017 nicht auch die eben außerhalb des Menschen mächtige und waltende pwo_219.018 göttliche Weltordnung herausgefordert wird; wo die kleinen menschlichen pwo_219.019 Neigungen und Schwächen, die Bethätigung des rein irdischen pwo_219.020 Lebensdranges, die Ordnung menschlicher Verhältnisse, das Leben der pwo_219.021 Menschen neben einander zur Geltung kommen. Nicht das Verhältnis pwo_219.022 des Menschen zur göttlichen Weltordnung, allein das zu den Mitmenschen pwo_219.023 dürfte in Frage kommen, wenn die Ereignisse sich in der pwo_219.024 rein menschlichen Machtsphäre halten sollen. Eine solche weitere dramatische pwo_219.025 Gattung bildet sich in der Komödie aus.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. E219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/233>, abgerufen am 29.04.2024.