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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Anschauungsvermögen verbindet sich von vorn herein im pwo_242.002
Dichter ein leicht erregbares Gefühlsleben.

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Auch potenziertes Anschauungsvermögen und Gefühlsleben würden pwo_242.004
nicht hinreichen, um ein dichterisches Werk zu vollbringen. Seien pwo_242.005
Anschauung und Empfindung des Einzelnen noch so lebhaft, sie blieben pwo_242.006
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Jhm, dem einen, der da singt von seinem Hingerissensein, ihm "gab pwo_242.008
ein Gott, zu sagen", was er empfindet. Das Anschauungsvermögen pwo_242.009
ward lebhaft herausgefordert, die Anschauung wirkte energisch auf das pwo_242.010
Gefühl, das lebhafte Gefühl drängt nach energischem Ausdruck. Das pwo_242.011
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lebhafte Wiedergabe: zu den Vorbedingungen des dichterischen Prozesses pwo_242.013
tritt schließlich Fähigkeit zur Reproduktion des Geschauten pwo_242.014
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durch die artikulierte Sprache.

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Potenzierte Energie der Anschauung, der Empfindung und des pwo_242.016
Ausdrucks, wie sie sich schon auf primitiver Stufe der Poesie als pwo_242.017
Grundlagen des dichterischen Schaffens erweisen, bleiben fortgesetzt die pwo_242.018
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auch weiterhin entgegentreten werden, eine entscheidende Rolle spielen pwo_242.022
dauernd die lebhafte Anschauung bestimmter Gegenstände, ihr lebhafter pwo_242.023
Eindruck auf das Gemüt und ihre entsprechend temperamentvolle pwo_242.024
Wiedergabe.

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§ 95. pwo_242.026
Das Eingreifen der dichterischen Phantasie.
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Um die ganze Fülle der im dichterischen Prozeß zusammenwirkenden pwo_242.028
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nicht als Mechanismus hinnimmt, sondern als lebendigen pwo_242.031
Organismus ausgestaltet. Die Sonne, die Nacht, den Wind, das pwo_242.032
Meer faßt der Dichter als beseelte höhere Wesen auf: die ganze pwo_242.033
Mythenschöpfung ist ein zwar unbewußtes, doch erfinderisches Spiel pwo_242.034
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[242/0256] pwo_242.001 Anschauungsvermögen verbindet sich von vorn herein im pwo_242.002 Dichter ein leicht erregbares Gefühlsleben. pwo_242.003   Auch potenziertes Anschauungsvermögen und Gefühlsleben würden pwo_242.004 nicht hinreichen, um ein dichterisches Werk zu vollbringen. Seien pwo_242.005 Anschauung und Empfindung des Einzelnen noch so lebhaft, sie blieben pwo_242.006 der Menschheit verloren, vermöchte der Dichter nicht, sie auszusprechen. pwo_242.007 Jhm, dem einen, der da singt von seinem Hingerissensein, ihm „gab pwo_242.008 ein Gott, zu sagen“, was er empfindet. Das Anschauungsvermögen pwo_242.009 ward lebhaft herausgefordert, die Anschauung wirkte energisch auf das pwo_242.010 Gefühl, das lebhafte Gefühl drängt nach energischem Ausdruck. Das pwo_242.011 seelische Verarbeiten der Anschauung mündet in eine möglichst gleich pwo_242.012 lebhafte Wiedergabe: zu den Vorbedingungen des dichterischen Prozesses pwo_242.013 tritt schließlich Fähigkeit zur Reproduktion des Geschauten pwo_242.014 und Empfundenen durch die artikulierte Sprache. pwo_242.015   Potenzierte Energie der Anschauung, der Empfindung und des pwo_242.016 Ausdrucks, wie sie sich schon auf primitiver Stufe der Poesie als pwo_242.017 Grundlagen des dichterischen Schaffens erweisen, bleiben fortgesetzt die pwo_242.018 wesentlichsten Charakteristika der Dichterseele, wennschon sie sich nicht pwo_242.019 immer mit gleicher Klarheit und Ausschließlichkeit in den Vordergrund pwo_242.020 drängen. Jn welchen Umkleidungen und Mischungen sie uns aber pwo_242.021 auch weiterhin entgegentreten werden, eine entscheidende Rolle spielen pwo_242.022 dauernd die lebhafte Anschauung bestimmter Gegenstände, ihr lebhafter pwo_242.023 Eindruck auf das Gemüt und ihre entsprechend temperamentvolle pwo_242.024 Wiedergabe. pwo_242.025 § 95. pwo_242.026 Das Eingreifen der dichterischen Phantasie. pwo_242.027   Um die ganze Fülle der im dichterischen Prozeß zusammenwirkenden pwo_242.028 Funktionen zu umspannen, müssen wir alsbald mit der pwo_242.029 Thatsache rechnen, daß schon die mythische Dichtung die Naturerscheinungen pwo_242.030 nicht als Mechanismus hinnimmt, sondern als lebendigen pwo_242.031 Organismus ausgestaltet. Die Sonne, die Nacht, den Wind, das pwo_242.032 Meer faßt der Dichter als beseelte höhere Wesen auf: die ganze pwo_242.033 Mythenschöpfung ist ein zwar unbewußtes, doch erfinderisches Spiel pwo_242.034 der Phantasie.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/256>, abgerufen am 15.05.2024.