einem Briefe an Pfarrer Snell, einen höchst achtbaren Naturforscher, den Beruf des Geieradlers wie folgt darzustellen. "Seinem ganzen Baue nach, mit seinen kurzen, schwachen Füßen, den langen, schmalen Flügeln und dem langen, keilförmigen Schwanze, sowie mit dem gesammten, glänzenden, harten, zum raschen Durchschneiden der Luft eingerichteten Gefieder ist der Bartgeier ein so entschiedener Stoßvogel, wie gar kein anderer mehr, als der schnellste Edelfalk. Er ist hiernach sichtlich zuvörderst dazu bestimmt und gemacht (?), große und mittelgroße Säugethiere am Rande der Abgründe hinabzustoßen, ohne sie mit seinen schwächlichen Zehen und Krallen zu fassen. Wie die Edelfalken auf eine Taube an der Dachfirste oder auf einen Vogel auf einer Baumspitze stoßen und sie zugleich fassen, um sie zu tödten, so bringt der Geieradler die Gegenstände seines Angriffs, weil sie nicht fliegen können, durch Hinabstürzen in die Tiefe vom Leben zum Tode. Daß er dann, wenn er keinen findet und in weniger schluchtenreichen Höhen- strichen, wo ihm oft nichts vorkommt, zu Aas greift, wenn sich ihm dieses darbietet, ist sehr natürlich: so natürlich, wie Wölfe und Füchse es thun, die man doch nicht wie die Hiäne zu ursprünglichen Aasfressern stempeln kann. Er thut wesentlich nur das Nämliche wie die Edelfalken in der Gefangenschaft mit den ihnen todt vorgeworfenen Vögeln. Daß er hier eher lange hungert, als lebende kleine Thiere umbringt, liegt offenbar daran, weil er hier seine angeborne Kampfesweise gegen sie nicht anwenden kann. Er ist, wie die Geier, ein Beißer, nicht, wie die falkenartigen Vögel, ein Würger. Darin liegen seine Eigenthümlichkeiten. Jch möchte auch nicht zweifeln, daß er mehr als andere Raubvögel ein Blutsauger sei, der die von ihm zum Herabstürzen gebrachten Thiere durch Zerbeißen der Halsschlagadern vollends tödtet. Sein Schnabel scheint mir zu Beidem ganz passend, passender wenigstens, als der jedes andern."
Die Zeiten, in denen die "Naturphilosophie" fehlende Thatsachen zu ersetzen suchte, sind glücklicher Weise vorüber. Alle Annahmen fördern uns nicht um einen Schritt; bestimmte Wahrnehmung nur, vorurtheilsfreie Beobachtung allein kann uns aufklären, und diese, meine ich, lehrt deutlich genug, daß der Geieradler im Großen nicht mehr ist, als der ihm in vieler Hinsicht sehr verwandte Schmuz- geier im Kleinen; ein kraftloser, feiger und leiblich wie geistig wenig begabter Raub- vogel, welcher nur gelegentlich ein kleines lebendes Wirbelthier wegnimmt, wie Dies alle Raubvögel ohne Ausnahme thun, gewöhnlich aber in Knochen und andern thierischen Abfällen seine Speise findet. Wenn es wirklich erlaubt ist, von Bestimmung eines Thieres zu sprechen, so ist der Geieradler gewiß nicht zum Räuber, sondern nur zum Knochenfresser bestimmt und ausgerüstet. Darauf hin deuten seine schwachen Wassen, dafür spricht sein ungeheurer Schlund, dafür die außergewöhnliche Verdauungskraft seines Magens. Die größten Knochen werden in erstaunlich kurzer Zeit vollständig zersetzt und verdaut. Georgi, der geistvolle Maler, welcher Tschudi's Thierleben schmückte, erzählte mir, daß er einst einen Bartgeier durch das Fernrohr beobachtet habe, welcher, auf einer hohen Felsenspitze sitzend, die Verdauung eines langen Knochens abwartete, der ihm noch theilweise aus dem Schnabel herausragte. An Gefangenen ist ähnliches beobachtet worden.
Der Geieradler pflanzt sich in Europa in den ersten Monaten des Jahres fort; in Asien und Afrika fällt die Brutzeit mit Beginn des dortigen Frühlings zusammen. Ueber das Brutgeschäft erfuhr ich zuerst durch die Hirten im steinigten Arabien Einiges, welches ich, soviel als mir möglich, dem Wortlaute nach wiedergeben will. "Sein Haus", so erzählte mir mein Gewährsmann, "gründet dieser Räuber und Sohn eines Räubers (verdamme Allah ihn und seine Nachkommen!) auf dem Haupt des Gebirges im Bauche einer Höhle, selten ist der Adamssohn im Stande, seine Burg zu ersteigen; denn gemeiniglich führt kein Weg zu ihr. Gelangst Du aber zur Höhe, so erblickst Du ein sehr großes Bett, welches sich dieser Bösewicht aus den Haaren der von ihm erwürgten Ziegen erbaut hat und darin ein oder zwei Eier; denn der Büdj ist so hungrig und so gierig, daß er höchstens zwei Eier ausbrütet (während andere Vögel doch viel mehr, die Steinhühner ja selbst funfzehn legen). Die Eier sind weiß, aber mit dem Blute der Thiere, welche er frißt, befleckt."
Bartgeier.
einem Briefe an Pfarrer Snell, einen höchſt achtbaren Naturforſcher, den Beruf des Geieradlers wie folgt darzuſtellen. „Seinem ganzen Baue nach, mit ſeinen kurzen, ſchwachen Füßen, den langen, ſchmalen Flügeln und dem langen, keilförmigen Schwanze, ſowie mit dem geſammten, glänzenden, harten, zum raſchen Durchſchneiden der Luft eingerichteten Gefieder iſt der Bartgeier ein ſo entſchiedener Stoßvogel, wie gar kein anderer mehr, als der ſchnellſte Edelfalk. Er iſt hiernach ſichtlich zuvörderſt dazu beſtimmt und gemacht (?), große und mittelgroße Säugethiere am Rande der Abgründe hinabzuſtoßen, ohne ſie mit ſeinen ſchwächlichen Zehen und Krallen zu faſſen. Wie die Edelfalken auf eine Taube an der Dachfirſte oder auf einen Vogel auf einer Baumſpitze ſtoßen und ſie zugleich faſſen, um ſie zu tödten, ſo bringt der Geieradler die Gegenſtände ſeines Angriffs, weil ſie nicht fliegen können, durch Hinabſtürzen in die Tiefe vom Leben zum Tode. Daß er dann, wenn er keinen findet und in weniger ſchluchtenreichen Höhen- ſtrichen, wo ihm oft nichts vorkommt, zu Aas greift, wenn ſich ihm dieſes darbietet, iſt ſehr natürlich: ſo natürlich, wie Wölfe und Füchſe es thun, die man doch nicht wie die Hiäne zu urſprünglichen Aasfreſſern ſtempeln kann. Er thut weſentlich nur das Nämliche wie die Edelfalken in der Gefangenſchaft mit den ihnen todt vorgeworfenen Vögeln. Daß er hier eher lange hungert, als lebende kleine Thiere umbringt, liegt offenbar daran, weil er hier ſeine angeborne Kampfesweiſe gegen ſie nicht anwenden kann. Er iſt, wie die Geier, ein Beißer, nicht, wie die falkenartigen Vögel, ein Würger. Darin liegen ſeine Eigenthümlichkeiten. Jch möchte auch nicht zweifeln, daß er mehr als andere Raubvögel ein Blutſauger ſei, der die von ihm zum Herabſtürzen gebrachten Thiere durch Zerbeißen der Halsſchlagadern vollends tödtet. Sein Schnabel ſcheint mir zu Beidem ganz paſſend, paſſender wenigſtens, als der jedes andern.‟
Die Zeiten, in denen die „Naturphiloſophie‟ fehlende Thatſachen zu erſetzen ſuchte, ſind glücklicher Weiſe vorüber. Alle Annahmen fördern uns nicht um einen Schritt; beſtimmte Wahrnehmung nur, vorurtheilsfreie Beobachtung allein kann uns aufklären, und dieſe, meine ich, lehrt deutlich genug, daß der Geieradler im Großen nicht mehr iſt, als der ihm in vieler Hinſicht ſehr verwandte Schmuz- geier im Kleinen; ein kraftloſer, feiger und leiblich wie geiſtig wenig begabter Raub- vogel, welcher nur gelegentlich ein kleines lebendes Wirbelthier wegnimmt, wie Dies alle Raubvögel ohne Ausnahme thun, gewöhnlich aber in Knochen und andern thieriſchen Abfällen ſeine Speiſe findet. Wenn es wirklich erlaubt iſt, von Beſtimmung eines Thieres zu ſprechen, ſo iſt der Geieradler gewiß nicht zum Räuber, ſondern nur zum Knochenfreſſer beſtimmt und ausgerüſtet. Darauf hin deuten ſeine ſchwachen Waſſen, dafür ſpricht ſein ungeheurer Schlund, dafür die außergewöhnliche Verdauungskraft ſeines Magens. Die größten Knochen werden in erſtaunlich kurzer Zeit vollſtändig zerſetzt und verdaut. Georgi, der geiſtvolle Maler, welcher Tſchudi’s Thierleben ſchmückte, erzählte mir, daß er einſt einen Bartgeier durch das Fernrohr beobachtet habe, welcher, auf einer hohen Felſenſpitze ſitzend, die Verdauung eines langen Knochens abwartete, der ihm noch theilweiſe aus dem Schnabel herausragte. An Gefangenen iſt ähnliches beobachtet worden.
Der Geieradler pflanzt ſich in Europa in den erſten Monaten des Jahres fort; in Aſien und Afrika fällt die Brutzeit mit Beginn des dortigen Frühlings zuſammen. Ueber das Brutgeſchäft erfuhr ich zuerſt durch die Hirten im ſteinigten Arabien Einiges, welches ich, ſoviel als mir möglich, dem Wortlaute nach wiedergeben will. „Sein Haus‟, ſo erzählte mir mein Gewährsmann, „gründet dieſer Räuber und Sohn eines Räubers (verdamme Allah ihn und ſeine Nachkommen!) auf dem Haupt des Gebirges im Bauche einer Höhle, ſelten iſt der Adamsſohn im Stande, ſeine Burg zu erſteigen; denn gemeiniglich führt kein Weg zu ihr. Gelangſt Du aber zur Höhe, ſo erblickſt Du ein ſehr großes Bett, welches ſich dieſer Böſewicht aus den Haaren der von ihm erwürgten Ziegen erbaut hat und darin ein oder zwei Eier; denn der Büdj iſt ſo hungrig und ſo gierig, daß er höchſtens zwei Eier ausbrütet (während andere Vögel doch viel mehr, die Steinhühner ja ſelbſt funfzehn legen). Die Eier ſind weiß, aber mit dem Blute der Thiere, welche er frißt, befleckt.‟
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Bartgeier.
einem Briefe an Pfarrer Snell, einen höchſt achtbaren Naturforſcher, den Beruf des Geieradlers
wie folgt darzuſtellen. „Seinem ganzen Baue nach, mit ſeinen kurzen, ſchwachen Füßen, den langen,
ſchmalen Flügeln und dem langen, keilförmigen Schwanze, ſowie mit dem geſammten, glänzenden,
harten, zum raſchen Durchſchneiden der Luft eingerichteten Gefieder iſt der Bartgeier ein ſo
entſchiedener Stoßvogel, wie gar kein anderer mehr, als der ſchnellſte Edelfalk. Er iſt hiernach
ſichtlich zuvörderſt dazu beſtimmt und gemacht (?), große und mittelgroße Säugethiere am Rande
der Abgründe hinabzuſtoßen, ohne ſie mit ſeinen ſchwächlichen Zehen und Krallen zu faſſen.
Wie die Edelfalken auf eine Taube an der Dachfirſte oder auf einen Vogel auf einer
Baumſpitze ſtoßen und ſie zugleich faſſen, um ſie zu tödten, ſo bringt der Geieradler die
Gegenſtände ſeines Angriffs, weil ſie nicht fliegen können, durch Hinabſtürzen in die Tiefe
vom Leben zum Tode. Daß er dann, wenn er keinen findet und in weniger ſchluchtenreichen Höhen-
ſtrichen, wo ihm oft nichts vorkommt, zu Aas greift, wenn ſich ihm dieſes darbietet, iſt ſehr natürlich:
ſo natürlich, wie Wölfe und Füchſe es thun, die man doch nicht wie die Hiäne zu urſprünglichen
Aasfreſſern ſtempeln kann. Er thut weſentlich nur das Nämliche wie die Edelfalken in der
Gefangenſchaft mit den ihnen todt vorgeworfenen Vögeln. Daß er hier eher lange hungert, als
lebende kleine Thiere umbringt, liegt offenbar daran, weil er hier ſeine angeborne Kampfesweiſe gegen
ſie nicht anwenden kann. Er iſt, wie die Geier, ein Beißer, nicht, wie die falkenartigen Vögel, ein
Würger. Darin liegen ſeine Eigenthümlichkeiten. Jch möchte auch nicht zweifeln, daß er mehr als
andere Raubvögel ein Blutſauger ſei, der die von ihm zum Herabſtürzen gebrachten Thiere durch
Zerbeißen der Halsſchlagadern vollends tödtet. Sein Schnabel ſcheint mir zu Beidem ganz paſſend,
paſſender wenigſtens, als der jedes andern.‟
Die Zeiten, in denen die „Naturphiloſophie‟ fehlende Thatſachen zu erſetzen ſuchte, ſind glücklicher
Weiſe vorüber. Alle Annahmen fördern uns nicht um einen Schritt; beſtimmte Wahrnehmung nur,
vorurtheilsfreie Beobachtung allein kann uns aufklären, und dieſe, meine ich, lehrt deutlich genug, daß
der Geieradler im Großen nicht mehr iſt, als der ihm in vieler Hinſicht ſehr verwandte Schmuz-
geier im Kleinen; ein kraftloſer, feiger und leiblich wie geiſtig wenig begabter Raub-
vogel, welcher nur gelegentlich ein kleines lebendes Wirbelthier wegnimmt, wie
Dies alle Raubvögel ohne Ausnahme thun, gewöhnlich aber in Knochen und
andern thieriſchen Abfällen ſeine Speiſe findet. Wenn es wirklich erlaubt iſt, von
Beſtimmung eines Thieres zu ſprechen, ſo iſt der Geieradler gewiß nicht zum Räuber, ſondern nur
zum Knochenfreſſer beſtimmt und ausgerüſtet. Darauf hin deuten ſeine ſchwachen Waſſen, dafür
ſpricht ſein ungeheurer Schlund, dafür die außergewöhnliche Verdauungskraft ſeines Magens. Die
größten Knochen werden in erſtaunlich kurzer Zeit vollſtändig zerſetzt und verdaut. Georgi, der
geiſtvolle Maler, welcher Tſchudi’s Thierleben ſchmückte, erzählte mir, daß er einſt einen Bartgeier
durch das Fernrohr beobachtet habe, welcher, auf einer hohen Felſenſpitze ſitzend, die Verdauung eines
langen Knochens abwartete, der ihm noch theilweiſe aus dem Schnabel herausragte. An Gefangenen
iſt ähnliches beobachtet worden.
Der Geieradler pflanzt ſich in Europa in den erſten Monaten des Jahres fort; in Aſien und
Afrika fällt die Brutzeit mit Beginn des dortigen Frühlings zuſammen. Ueber das Brutgeſchäft
erfuhr ich zuerſt durch die Hirten im ſteinigten Arabien Einiges, welches ich, ſoviel als mir möglich,
dem Wortlaute nach wiedergeben will. „Sein Haus‟, ſo erzählte mir mein Gewährsmann, „gründet
dieſer Räuber und Sohn eines Räubers (verdamme Allah ihn und ſeine Nachkommen!) auf dem
Haupt des Gebirges im Bauche einer Höhle, ſelten iſt der Adamsſohn im Stande, ſeine Burg zu
erſteigen; denn gemeiniglich führt kein Weg zu ihr. Gelangſt Du aber zur Höhe, ſo erblickſt Du ein
ſehr großes Bett, welches ſich dieſer Böſewicht aus den Haaren der von ihm erwürgten Ziegen erbaut
hat und darin ein oder zwei Eier; denn der Büdj iſt ſo hungrig und ſo gierig, daß er höchſtens zwei
Eier ausbrütet (während andere Vögel doch viel mehr, die Steinhühner ja ſelbſt funfzehn legen). Die
Eier ſind weiß, aber mit dem Blute der Thiere, welche er frißt, befleckt.‟
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/581>, abgerufen am 13.06.2024.
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