Wenn wir das Seuffzen und das Klagen Der Andromach' und Marianen spüren; So können die verstellte Plagen Das Schreyen, Winseln, Weinen, Zagen, Durch ein geheimes Dencken, Als könten sie in solchen Bildern, Die uns so Geist als Kunst natürlich schildern, Uns reitzen und Vergnügen schencken, Die Seele, welche denckt, trifft tausend Anmuth an, Wenn sie den Fluß erdichter Zähren sieht. Man schaut mit frölichem Gemüth, Wie man den Schmertz natürlich bilden kan. Sollt' es wol möglich seyn, daß solche Lust uns rührte, Wenn solche vorgestellte Zähren Recht ernstlich und natürlich wären, Und wenn man wahre Klagen spürte?
Was dis noch mehr bewähret, Daß uns're Seel allein Jn sich die Würckung bloß empfindet und erfähret, Die nach dem Augen-Schein Sich in die Sinne drückt: Jst, daß von allen Tönen Die Stimme der Person, die jemand liebt, Jhm das empfindlichste Vergnügen giebt, Da einer, der vom Reitz derselben Schönen Nicht angeflammet, nicht gerührt, Dergleichen Anmuth nicht verspürt. Man wird vom Schall der Wörter bloß entzücket. Der Stimme, die man liebt, muß alles weichen, Die herlichste Musie ist ihr nicht zu vergleichen.
Es
Vom Gehoͤr.
Wenn wir das Seuffzen und das Klagen Der Andromach’ und Marianen ſpuͤren; So koͤnnen die verſtellte Plagen Das Schreyen, Winſeln, Weinen, Zagen, Durch ein geheimes Dencken, Als koͤnten ſie in ſolchen Bildern, Die uns ſo Geiſt als Kunſt natuͤrlich ſchildern, Uns reitzen und Vergnuͤgen ſchencken, Die Seele, welche denckt, trifft tauſend Anmuth an, Wenn ſie den Fluß erdichter Zaͤhren ſieht. Man ſchaut mit froͤlichem Gemuͤth, Wie man den Schmertz natuͤrlich bilden kan. Sollt’ es wol moͤglich ſeyn, daß ſolche Luſt uns ruͤhrte, Wenn ſolche vorgeſtellte Zaͤhren Recht ernſtlich und natuͤrlich waͤren, Und wenn man wahre Klagen ſpuͤrte?
Was dis noch mehr bewaͤhret, Daß unſ’re Seel allein Jn ſich die Wuͤrckung bloß empfindet und erfaͤhret, Die nach dem Augen-Schein Sich in die Sinne druͤckt: Jſt, daß von allen Toͤnen Die Stimme der Perſon, die jemand liebt, Jhm das empfindlichſte Vergnuͤgen giebt, Da einer, der vom Reitz derſelben Schoͤnen Nicht angeflammet, nicht geruͤhrt, Dergleichen Anmuth nicht verſpuͤrt. Man wird vom Schall der Woͤrter bloß entzuͤcket. Der Stimme, die man liebt, muß alles weichen, Die herlichſte Muſie iſt ihr nicht zu vergleichen.
Es
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Vom Gehoͤr.
Wenn wir das Seuffzen und das Klagen
Der Andromach’ und Marianen ſpuͤren;
So koͤnnen die verſtellte Plagen
Das Schreyen, Winſeln, Weinen, Zagen,
Durch ein geheimes Dencken,
Als koͤnten ſie in ſolchen Bildern,
Die uns ſo Geiſt als Kunſt natuͤrlich ſchildern,
Uns reitzen und Vergnuͤgen ſchencken,
Die Seele, welche denckt, trifft tauſend Anmuth an,
Wenn ſie den Fluß erdichter Zaͤhren ſieht.
Man ſchaut mit froͤlichem Gemuͤth,
Wie man den Schmertz natuͤrlich bilden kan.
Sollt’ es wol moͤglich ſeyn, daß ſolche Luſt uns ruͤhrte,
Wenn ſolche vorgeſtellte Zaͤhren
Recht ernſtlich und natuͤrlich waͤren,
Und wenn man wahre Klagen ſpuͤrte?
Was dis noch mehr bewaͤhret,
Daß unſ’re Seel allein
Jn ſich die Wuͤrckung bloß empfindet und erfaͤhret,
Die nach dem Augen-Schein
Sich in die Sinne druͤckt: Jſt, daß von allen Toͤnen
Die Stimme der Perſon, die jemand liebt,
Jhm das empfindlichſte Vergnuͤgen giebt,
Da einer, der vom Reitz derſelben Schoͤnen
Nicht angeflammet, nicht geruͤhrt,
Dergleichen Anmuth nicht verſpuͤrt.
Man wird vom Schall der Woͤrter bloß entzuͤcket.
Der Stimme, die man liebt, muß alles weichen,
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Brockes, Barthold Heinrich: Herrn B. H. Brockes, [...] verdeutschte Grund-Sätze der Welt-Weisheit, des Herrn Abts Genest. Bd. 3. 2. Aufl. Hamburg, 1730, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen03_1730/477>, abgerufen am 17.06.2024.
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