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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.leichter vergessen, während die italienische Phantasie das
Bild des Unrechts in furchtbarer Frische erhält 1). Daß zu-
gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt
und oft auf das Gräßlichste geübt wird, giebt dieser allge-
meinen Rachsucht noch einen besondern Grund und Boden.
Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Dasein
und ihre Berechtigung an und suchen nur den schlimmsten
Excessen zu steuern. Aber auch unter den Bauern kommen
thyesteische Mahlzeiten und weit sich ausbreitender Wechsel-
mord vor; hören wir nur einen Zeugen 2).

Blutrache der
Bauern,
In der Landschaft von Acquapendente hüteten drei
Hirtenknaben das Vieh und Einer sagte: wir wollen ver-
suchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern
auf die Schulter saß und der Dritte den Strick zuerst um
dessen Hals schlang und dann an eine Eiche band, kam der
Wolf, so daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen.
Hernach fanden sie ihn todt und begruben ihn. Sonntags
kam sein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von
den Beiden gestand ihm den Hergang und zeigte ihm das
Grab. Der Alte aber tödtete diesen mit einem Messer,
schnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu
Hause dessen Vater; dann sagte er ihm, wessen Leber er
gegessen. Hierauf begann das wechselseitige Morden zwi-
schen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren
36 Personen, Weiber sowohl als Männer, umgebracht.

der höhern
Stände.
Und solche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera-
tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erstreckten sich
auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken sowohl
als Novellensammlungen sind voll von Beispielen, zumal
von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der classische

1) Dieses Raisonnement des geistreichen Stendhal (la chartreuse de
Parme, ed. Delahays, p.
355) scheint mir auf tiefer psychologi-
scher Beobachtung zu ruhen.
2) Graziani, cronaca di Perugia, zum J. 1437 (Arch. stor. XVI,
I, p.
415).

6. Abſchnitt.leichter vergeſſen, während die italieniſche Phantaſie das
Bild des Unrechts in furchtbarer Friſche erhält 1). Daß zu-
gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt
und oft auf das Gräßlichſte geübt wird, giebt dieſer allge-
meinen Rachſucht noch einen beſondern Grund und Boden.
Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Daſein
und ihre Berechtigung an und ſuchen nur den ſchlimmſten
Exceſſen zu ſteuern. Aber auch unter den Bauern kommen
thyeſteiſche Mahlzeiten und weit ſich ausbreitender Wechſel-
mord vor; hören wir nur einen Zeugen 2).

Blutrache der
Bauern,
In der Landſchaft von Acquapendente hüteten drei
Hirtenknaben das Vieh und Einer ſagte: wir wollen ver-
ſuchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern
auf die Schulter ſaß und der Dritte den Strick zuerſt um
deſſen Hals ſchlang und dann an eine Eiche band, kam der
Wolf, ſo daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen.
Hernach fanden ſie ihn todt und begruben ihn. Sonntags
kam ſein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von
den Beiden geſtand ihm den Hergang und zeigte ihm das
Grab. Der Alte aber tödtete dieſen mit einem Meſſer,
ſchnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu
Hauſe deſſen Vater; dann ſagte er ihm, weſſen Leber er
gegeſſen. Hierauf begann das wechſelſeitige Morden zwi-
ſchen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren
36 Perſonen, Weiber ſowohl als Männer, umgebracht.

der höhern
Stände.
Und ſolche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera-
tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erſtreckten ſich
auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken ſowohl
als Novellenſammlungen ſind voll von Beiſpielen, zumal
von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der claſſiſche

1) Dieſes Raiſonnement des geiſtreichen Stendhal (la chartreuse de
Parme, ed. Delahays, p.
355) ſcheint mir auf tiefer pſychologi-
ſcher Beobachtung zu ruhen.
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[434/0444] leichter vergeſſen, während die italieniſche Phantaſie das Bild des Unrechts in furchtbarer Friſche erhält 1). Daß zu- gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt und oft auf das Gräßlichſte geübt wird, giebt dieſer allge- meinen Rachſucht noch einen beſondern Grund und Boden. Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Daſein und ihre Berechtigung an und ſuchen nur den ſchlimmſten Exceſſen zu ſteuern. Aber auch unter den Bauern kommen thyeſteiſche Mahlzeiten und weit ſich ausbreitender Wechſel- mord vor; hören wir nur einen Zeugen 2). 6. Abſchnitt. In der Landſchaft von Acquapendente hüteten drei Hirtenknaben das Vieh und Einer ſagte: wir wollen ver- ſuchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern auf die Schulter ſaß und der Dritte den Strick zuerſt um deſſen Hals ſchlang und dann an eine Eiche band, kam der Wolf, ſo daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen. Hernach fanden ſie ihn todt und begruben ihn. Sonntags kam ſein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von den Beiden geſtand ihm den Hergang und zeigte ihm das Grab. Der Alte aber tödtete dieſen mit einem Meſſer, ſchnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu Hauſe deſſen Vater; dann ſagte er ihm, weſſen Leber er gegeſſen. Hierauf begann das wechſelſeitige Morden zwi- ſchen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren 36 Perſonen, Weiber ſowohl als Männer, umgebracht. Blutrache der Bauern, Und ſolche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera- tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erſtreckten ſich auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken ſowohl als Novellenſammlungen ſind voll von Beiſpielen, zumal von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der claſſiſche der höhern Stände. 1) Dieſes Raiſonnement des geiſtreichen Stendhal (la chartreuse de Parme, ed. Delahays, p. 355) ſcheint mir auf tiefer pſychologi- ſcher Beobachtung zu ruhen. 2) Graziani, cronaca di Perugia, zum J. 1437 (Arch. stor. XVI, I, p. 415).

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/444>, abgerufen am 30.04.2024.