als "Geist" (nous) vom Stoffe. Er nahm noch jenseits der Elemente gleichartige unsichtbare Theile (Homoiomeren) an, aus denen die Ele- mente selbst wieder beständen. Diese Ansicht wird dann auf den thie- rischen Körper übertragen. Gleichartige Theile entstehen nicht; es tritt z. B. Fleisch aus der Nahrung zum Fleische, welches hierdurch wächst. Dunklen Fragen gegenüber ist er ein Kind seiner Zeit. Die die Ge- müther auch damals schon so mächtig erregende Frage nach der Ent- stehung der Geschlechter beantwortet er dahin, daß der Samen vom Männchen komme, das Weibchen den Ort bestimme; von der rechten Seite kommen die Männchen, von der linken die Weibchen, und ebenso liegen beide Geschlechter im Uterus. Wie wenig er wirkliches Verständniß der Lebensvorgänge hatte, beweist die Angabe, Raben und der Ibis begatten sich mit den Schnäbeln, auch das Wiesel bringe seine Jungen durch das Maul zur Welt77).
Gering ist das thatsächliche Material, welches bei den bis jetzt Genannten zu finden war; unbedeutend ist auch die Hülfe, welche ihre Lehre der naturwissenschaftlichen Methode brachte. Auch die Atomiker haben selbst wenig zootomische oder physiologische Thatsachen an's Licht gefördert; der Einfluß ihrer Anschauungen war aber fruchtbringend. "Wo die Verlegenheit nicht vergessen ist, in welche das Denken der Er- fahrung gegenüber durch die Annahme eines Seienden oder auch der qualitativen Veränderung gebracht wird, da muß nothwendig der for- male d. h. der mechanische Erklärungsversuch ohne Rücksicht auf die scheinbare Unterschiedlichkeit zwischen Stoff und Geist . . . jedem an- dern vorgezogen und consequent zur reinen Atomistik ausgebildet wer- den". "Die Atomistik hat darum nicht geringe Bedeutung, weil aus ihr in der Geschichte der inductiven Wissenschaften die Grundbegriffe zu denjenigen Hypothesen der Physiker und Chemiker entlehnt sind, durch welche die Verbindung der Mathematik mit der Naturforschung mög- lich und für die formale Erklärung der Erscheinungen fruchtbar geworden
77) Die betreffenden Stellen bei Aristoteles, de gener. anim. I, 18, 44; IV, 1, 2; III, 6, 66. Die letzte Angabe wiederholt Plinius, aber nicht vom Wiesel, sondern von Eidechsen und fügt auch hier hinzu: Aristoteles negat. Hist. nat. X, 65, 85.
Zoologiſche Kenntniſſe des Alterthums.
als „Geiſt“ (νοῦς) vom Stoffe. Er nahm noch jenſeits der Elemente gleichartige unſichtbare Theile (Homoiomeren) an, aus denen die Ele- mente ſelbſt wieder beſtänden. Dieſe Anſicht wird dann auf den thie- riſchen Körper übertragen. Gleichartige Theile entſtehen nicht; es tritt z. B. Fleiſch aus der Nahrung zum Fleiſche, welches hierdurch wächſt. Dunklen Fragen gegenüber iſt er ein Kind ſeiner Zeit. Die die Ge- müther auch damals ſchon ſo mächtig erregende Frage nach der Ent- ſtehung der Geſchlechter beantwortet er dahin, daß der Samen vom Männchen komme, das Weibchen den Ort beſtimme; von der rechten Seite kommen die Männchen, von der linken die Weibchen, und ebenſo liegen beide Geſchlechter im Uterus. Wie wenig er wirkliches Verſtändniß der Lebensvorgänge hatte, beweiſt die Angabe, Raben und der Ibis begatten ſich mit den Schnäbeln, auch das Wieſel bringe ſeine Jungen durch das Maul zur Welt77).
Gering iſt das thatſächliche Material, welches bei den bis jetzt Genannten zu finden war; unbedeutend iſt auch die Hülfe, welche ihre Lehre der naturwiſſenſchaftlichen Methode brachte. Auch die Atomiker haben ſelbſt wenig zootomiſche oder phyſiologiſche Thatſachen an's Licht gefördert; der Einfluß ihrer Anſchauungen war aber fruchtbringend. „Wo die Verlegenheit nicht vergeſſen iſt, in welche das Denken der Er- fahrung gegenüber durch die Annahme eines Seienden oder auch der qualitativen Veränderung gebracht wird, da muß nothwendig der for- male d. h. der mechaniſche Erklärungsverſuch ohne Rückſicht auf die ſcheinbare Unterſchiedlichkeit zwiſchen Stoff und Geiſt . . . jedem an- dern vorgezogen und conſequent zur reinen Atomiſtik ausgebildet wer- den“. „Die Atomiſtik hat darum nicht geringe Bedeutung, weil aus ihr in der Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften die Grundbegriffe zu denjenigen Hypotheſen der Phyſiker und Chemiker entlehnt ſind, durch welche die Verbindung der Mathematik mit der Naturforſchung mög- lich und für die formale Erklärung der Erſcheinungen fruchtbar geworden
77) Die betreffenden Stellen bei Ariſtoteles, de gener. anim. I, 18, 44; IV, 1, 2; III, 6, 66. Die letzte Angabe wiederholt Plinius, aber nicht vom Wieſel, ſondern von Eidechſen und fügt auch hier hinzu: Ariſtoteles negat. Hist. nat. X, 65, 85.
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Zoologiſche Kenntniſſe des Alterthums.
als „Geiſt“ (νοῦς) vom Stoffe. Er nahm noch jenſeits der Elemente
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mente ſelbſt wieder beſtänden. Dieſe Anſicht wird dann auf den thie-
riſchen Körper übertragen. Gleichartige Theile entſtehen nicht; es tritt
z. B. Fleiſch aus der Nahrung zum Fleiſche, welches hierdurch wächſt.
Dunklen Fragen gegenüber iſt er ein Kind ſeiner Zeit. Die die Ge-
müther auch damals ſchon ſo mächtig erregende Frage nach der Ent-
ſtehung der Geſchlechter beantwortet er dahin, daß der Samen vom
Männchen komme, das Weibchen den Ort beſtimme; von der rechten
Seite kommen die Männchen, von der linken die Weibchen, und
ebenſo liegen beide Geſchlechter im Uterus. Wie wenig er wirkliches
Verſtändniß der Lebensvorgänge hatte, beweiſt die Angabe, Raben und
der Ibis begatten ſich mit den Schnäbeln, auch das Wieſel bringe
ſeine Jungen durch das Maul zur Welt 77).
Gering iſt das thatſächliche Material, welches bei den bis jetzt
Genannten zu finden war; unbedeutend iſt auch die Hülfe, welche ihre
Lehre der naturwiſſenſchaftlichen Methode brachte. Auch die Atomiker
haben ſelbſt wenig zootomiſche oder phyſiologiſche Thatſachen an's Licht
gefördert; der Einfluß ihrer Anſchauungen war aber fruchtbringend.
„Wo die Verlegenheit nicht vergeſſen iſt, in welche das Denken der Er-
fahrung gegenüber durch die Annahme eines Seienden oder auch der
qualitativen Veränderung gebracht wird, da muß nothwendig der for-
male d. h. der mechaniſche Erklärungsverſuch ohne Rückſicht auf die
ſcheinbare Unterſchiedlichkeit zwiſchen Stoff und Geiſt . . . jedem an-
dern vorgezogen und conſequent zur reinen Atomiſtik ausgebildet wer-
den“. „Die Atomiſtik hat darum nicht geringe Bedeutung, weil aus ihr
in der Geſchichte der inductiven Wiſſenſchaften die Grundbegriffe zu
denjenigen Hypotheſen der Phyſiker und Chemiker entlehnt ſind, durch
welche die Verbindung der Mathematik mit der Naturforſchung mög-
lich und für die formale Erklärung der Erſcheinungen fruchtbar geworden
77) Die betreffenden Stellen bei Ariſtoteles, de gener. anim. I, 18, 44; IV,
1, 2; III, 6, 66. Die letzte Angabe wiederholt Plinius, aber nicht vom Wieſel,
ſondern von Eidechſen und fügt auch hier hinzu: Ariſtoteles negat. Hist. nat. X,
65, 85.
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/71>, abgerufen am 14.06.2024.
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