Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Erbe der alten Welt.
römische Reich und seine Interessen, sich beständig erweiterte, ver-
engerte sich in bedenklichster Weise der Horizont der inneren Inter-
essen. Sittlich jedoch steht Rom in vielen Beziehungen höher als
Hellas: der Grieche war von jeher, was er noch heute ist, untreu,
unpatriotisch, eigensüchtig; Selbstbeherrschung war ihm fremd, darum
hat er es nie verstanden, andere zu beherrschen, noch sich selber
mit würdigem Stolze beherrschen zu lassen. Dagegen weist das
Wachstum und die zähe Lebensdauer des römischen Staates auf den
klugen, kraftvollen, bewussten politischen Geist der Bürger hin. Die
Familie und das sie schützende Gesetz sind die Schöpfungen Roms.
Und zwar gilt das ebensowohl von der Familie im engeren, jede
höhere Sittlichkeit begründenden Sinne, wie auch in der erweiterten
Bedeutung einer die Gesamtheit der Bürger zu einem festen, wider-
standsfähigen Staate verbindenden Gewalt; nur aus der Familie konnte
ein dauerhafter Staat entstehen, nur durch den Staat konnte das, was
wir heute Civilisation nennen, ein entwickelungsfähiges Prinzip der
Gesellschaft werden. Sämtliche Staaten Europas sind Pfropfreiser auf
dem römischen Stamme. Und mochte noch so häufig, damals wie
heute, Gewalt über Recht siegen, die Idee des Rechtes ward uns
fortan zu eigen. -- Indes, ebenso wie der Tag die Nacht erfordert
(die heilige Nacht, die unserem Auge das Geheimnis anderer Welten
enthüllt, Welten über uns am Himmelsgewölbe und Welten in uns
selber, in den Tiefen des schweigenden Innern), ebenso erforderte
das herrliche positive Werk der Griechen und Römer eine negative
Ergänzung; durch Israel wurde sie gegeben. Um die Sterne zu
erblicken, muss das Tageslicht gelöscht werden; um ganz gross zu
werden, um jene tragische Grösse zu gewinnen, von welcher ich
vorhin sagte, dass sie allein der Geschichte einen lebensvollen Inhalt
verleihe, musste der Mensch sich nicht allein seiner Kraft, sondern
auch seiner Schwäche bewusst werden. Erst durch die klare Er-
kenntnis und die schonungslose Betonung der Gerinfügigkeit alles
menschlichen Thuns, der Erbärmlichkeit der himmelanstrebenden Ver-
nunft, der allgemeinen Niederträchtigkeit menschlicher Gesinnungen
und staatlicher Motive, fasste das Denken Fuss auf einem durchaus
neuen Boden, von wo aus es im Menschenherzen Anlagen und
Fähigkeiten entdecken sollte, die ihn zu der Erkenntnis eines Er-
habensten führten; niemals hätten Griechen und Römer auf ihrem
Wege dieses Erhabenste erreicht, niemals wäre es ihnen beigekommen,
dem Leben des einzelnen Individuums eine so hohe Bedeutung bei-

Das Erbe der alten Welt.
römische Reich und seine Interessen, sich beständig erweiterte, ver-
engerte sich in bedenklichster Weise der Horizont der inneren Inter-
essen. Sittlich jedoch steht Rom in vielen Beziehungen höher als
Hellas: der Grieche war von jeher, was er noch heute ist, untreu,
unpatriotisch, eigensüchtig; Selbstbeherrschung war ihm fremd, darum
hat er es nie verstanden, andere zu beherrschen, noch sich selber
mit würdigem Stolze beherrschen zu lassen. Dagegen weist das
Wachstum und die zähe Lebensdauer des römischen Staates auf den
klugen, kraftvollen, bewussten politischen Geist der Bürger hin. Die
Familie und das sie schützende Gesetz sind die Schöpfungen Roms.
Und zwar gilt das ebensowohl von der Familie im engeren, jede
höhere Sittlichkeit begründenden Sinne, wie auch in der erweiterten
Bedeutung einer die Gesamtheit der Bürger zu einem festen, wider-
standsfähigen Staate verbindenden Gewalt; nur aus der Familie konnte
ein dauerhafter Staat entstehen, nur durch den Staat konnte das, was
wir heute Civilisation nennen, ein entwickelungsfähiges Prinzip der
Gesellschaft werden. Sämtliche Staaten Europas sind Pfropfreiser auf
dem römischen Stamme. Und mochte noch so häufig, damals wie
heute, Gewalt über Recht siegen, die Idee des Rechtes ward uns
fortan zu eigen. — Indes, ebenso wie der Tag die Nacht erfordert
(die heilige Nacht, die unserem Auge das Geheimnis anderer Welten
enthüllt, Welten über uns am Himmelsgewölbe und Welten in uns
selber, in den Tiefen des schweigenden Innern), ebenso erforderte
das herrliche positive Werk der Griechen und Römer eine negative
Ergänzung; durch Israel wurde sie gegeben. Um die Sterne zu
erblicken, muss das Tageslicht gelöscht werden; um ganz gross zu
werden, um jene tragische Grösse zu gewinnen, von welcher ich
vorhin sagte, dass sie allein der Geschichte einen lebensvollen Inhalt
verleihe, musste der Mensch sich nicht allein seiner Kraft, sondern
auch seiner Schwäche bewusst werden. Erst durch die klare Er-
kenntnis und die schonungslose Betonung der Gerinfügigkeit alles
menschlichen Thuns, der Erbärmlichkeit der himmelanstrebenden Ver-
nunft, der allgemeinen Niederträchtigkeit menschlicher Gesinnungen
und staatlicher Motive, fasste das Denken Fuss auf einem durchaus
neuen Boden, von wo aus es im Menschenherzen Anlagen und
Fähigkeiten entdecken sollte, die ihn zu der Erkenntnis eines Er-
habensten führten; niemals hätten Griechen und Römer auf ihrem
Wege dieses Erhabenste erreicht, niemals wäre es ihnen beigekommen,
dem Leben des einzelnen Individuums eine so hohe Bedeutung bei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0069" n="46"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/>
römische Reich und seine Interessen, sich beständig erweiterte, ver-<lb/>
engerte sich in bedenklichster Weise der Horizont der inneren Inter-<lb/>
essen. Sittlich jedoch steht Rom in vielen Beziehungen höher als<lb/>
Hellas: der Grieche war von jeher, was er noch heute ist, untreu,<lb/>
unpatriotisch, eigensüchtig; Selbstbeherrschung war ihm fremd, darum<lb/>
hat er es nie verstanden, andere zu beherrschen, noch sich selber<lb/>
mit würdigem Stolze beherrschen zu lassen. Dagegen weist das<lb/>
Wachstum und die zähe Lebensdauer des römischen Staates auf den<lb/>
klugen, kraftvollen, bewussten politischen Geist der Bürger hin. Die<lb/><hi rendition="#g">Familie</hi> und das sie schützende <hi rendition="#g">Gesetz</hi> sind die Schöpfungen Roms.<lb/>
Und zwar gilt das ebensowohl von der Familie im engeren, jede<lb/>
höhere Sittlichkeit begründenden Sinne, wie auch in der erweiterten<lb/>
Bedeutung einer die Gesamtheit der Bürger zu einem festen, wider-<lb/>
standsfähigen Staate verbindenden Gewalt; nur aus der Familie konnte<lb/>
ein dauerhafter Staat entstehen, nur durch den Staat konnte das, was<lb/>
wir heute Civilisation nennen, ein entwickelungsfähiges Prinzip der<lb/>
Gesellschaft werden. Sämtliche Staaten Europas sind Pfropfreiser auf<lb/>
dem römischen Stamme. Und mochte noch so häufig, damals wie<lb/>
heute, Gewalt über Recht siegen, die Idee des Rechtes ward uns<lb/>
fortan zu eigen. &#x2014; Indes, ebenso wie der Tag die Nacht erfordert<lb/>
(die heilige Nacht, die unserem Auge das Geheimnis anderer Welten<lb/>
enthüllt, Welten über uns am Himmelsgewölbe und Welten in uns<lb/>
selber, in den Tiefen des schweigenden Innern), ebenso erforderte<lb/>
das herrliche positive Werk der Griechen und Römer eine negative<lb/>
Ergänzung; durch Israel wurde sie gegeben. Um die Sterne zu<lb/>
erblicken, muss das Tageslicht gelöscht werden; um ganz gross zu<lb/>
werden, um jene tragische Grösse zu gewinnen, von welcher ich<lb/>
vorhin sagte, dass sie allein der Geschichte einen lebensvollen Inhalt<lb/>
verleihe, musste der Mensch sich nicht allein seiner Kraft, sondern<lb/>
auch seiner Schwäche bewusst werden. Erst durch die klare Er-<lb/>
kenntnis und die schonungslose Betonung der Gerinfügigkeit alles<lb/>
menschlichen Thuns, der Erbärmlichkeit der himmelanstrebenden Ver-<lb/>
nunft, der allgemeinen Niederträchtigkeit menschlicher Gesinnungen<lb/>
und staatlicher Motive, fasste das Denken Fuss auf einem durchaus<lb/>
neuen Boden, von wo aus es im Menschenherzen Anlagen und<lb/>
Fähigkeiten entdecken sollte, die ihn zu der Erkenntnis eines Er-<lb/>
habensten führten; niemals hätten Griechen und Römer auf ihrem<lb/>
Wege dieses Erhabenste erreicht, niemals wäre es ihnen beigekommen,<lb/>
dem Leben des einzelnen Individuums eine so hohe Bedeutung bei-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0069] Das Erbe der alten Welt. römische Reich und seine Interessen, sich beständig erweiterte, ver- engerte sich in bedenklichster Weise der Horizont der inneren Inter- essen. Sittlich jedoch steht Rom in vielen Beziehungen höher als Hellas: der Grieche war von jeher, was er noch heute ist, untreu, unpatriotisch, eigensüchtig; Selbstbeherrschung war ihm fremd, darum hat er es nie verstanden, andere zu beherrschen, noch sich selber mit würdigem Stolze beherrschen zu lassen. Dagegen weist das Wachstum und die zähe Lebensdauer des römischen Staates auf den klugen, kraftvollen, bewussten politischen Geist der Bürger hin. Die Familie und das sie schützende Gesetz sind die Schöpfungen Roms. Und zwar gilt das ebensowohl von der Familie im engeren, jede höhere Sittlichkeit begründenden Sinne, wie auch in der erweiterten Bedeutung einer die Gesamtheit der Bürger zu einem festen, wider- standsfähigen Staate verbindenden Gewalt; nur aus der Familie konnte ein dauerhafter Staat entstehen, nur durch den Staat konnte das, was wir heute Civilisation nennen, ein entwickelungsfähiges Prinzip der Gesellschaft werden. Sämtliche Staaten Europas sind Pfropfreiser auf dem römischen Stamme. Und mochte noch so häufig, damals wie heute, Gewalt über Recht siegen, die Idee des Rechtes ward uns fortan zu eigen. — Indes, ebenso wie der Tag die Nacht erfordert (die heilige Nacht, die unserem Auge das Geheimnis anderer Welten enthüllt, Welten über uns am Himmelsgewölbe und Welten in uns selber, in den Tiefen des schweigenden Innern), ebenso erforderte das herrliche positive Werk der Griechen und Römer eine negative Ergänzung; durch Israel wurde sie gegeben. Um die Sterne zu erblicken, muss das Tageslicht gelöscht werden; um ganz gross zu werden, um jene tragische Grösse zu gewinnen, von welcher ich vorhin sagte, dass sie allein der Geschichte einen lebensvollen Inhalt verleihe, musste der Mensch sich nicht allein seiner Kraft, sondern auch seiner Schwäche bewusst werden. Erst durch die klare Er- kenntnis und die schonungslose Betonung der Gerinfügigkeit alles menschlichen Thuns, der Erbärmlichkeit der himmelanstrebenden Ver- nunft, der allgemeinen Niederträchtigkeit menschlicher Gesinnungen und staatlicher Motive, fasste das Denken Fuss auf einem durchaus neuen Boden, von wo aus es im Menschenherzen Anlagen und Fähigkeiten entdecken sollte, die ihn zu der Erkenntnis eines Er- habensten führten; niemals hätten Griechen und Römer auf ihrem Wege dieses Erhabenste erreicht, niemals wäre es ihnen beigekommen, dem Leben des einzelnen Individuums eine so hohe Bedeutung bei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/69
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/69>, abgerufen am 31.10.2024.