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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
spitzte.1) Hieraus musste sich mit derselben Notwendigkeit die Religion
des Glaubens im Gegensatz zur Religion der Werke entwickeln, d. h.
Idealismus im Gegensatz zu Materialismus, innerliche, sittliche Umkehr
im Gegensatz zu semitischer Gesetzesheiligkeit und römischem Ablass-
kram. Hier halten wir übrigens ein vorzügliches Beispiel von der
Bedeutung der blossen Richtung, d. h. also der blossen Orientierung
im geistigen Raume. Denn nie hat irgend ein Mensch gelehrt, ein
Leben könne gut sein ohne gute Werke,2) und umgekehrt ist es die
stillschweigende Voraussetzung des Judentums und ein Religionssatz der
Römer, dass gute Werke ohne Glauben unnütz sind; an und für sich
ist also jede der beiden Auffassungen gleich edel und moralisch; je
nachdem aber das Eine oder das Andere betont wird, gelangt man dazu,
das Wesen der Religion in die innerliche Umwandlung des Menschen,
in seine Gesinnung, in seine ganze Art zu denken und zu fühlen zu
legen, oder aber es treten äussere Observanzen, äusserlich bewirkte
Erlösung, Buchführung über gute und böse Thaten und die Berechnung
der Sittlichkeit nach Art eines Guthabens ein.3) Kaum minder be-

1) Lamprecht, a. a. O., S. 193. Lamprecht selber hat, wie die meisten
unserer Zeitgenossen, keine Ahnung von dem Sinn dieser Erscheinung (die ich im
neunten Kapitel ausführlich erörtere). Er meint: "der sittliche Individualismus
schlummerte noch"!
2) Unglaublich ist es, wie noch heutigen Tages selbst in wissenschaftlichen
römischen Werken gelehrt wird (siehe z. B. Brück: Lehrbuch der Kirchengeschichte,
6. Auflage, S. 586), Luther habe gepredigt, wer glaube, möge nur lustig darauf los-
sündigen. Auf diese lasterhafte Dummheit genüge folgendes Citat als Erwiderung:
"Wie nun die Bäume müssen eher sein denn die Früchte, und die Früchte nicht
die Bäume weder gut noch böse machen, sondern die Bäume machen die Früchte,
also muss der Mensch in der Person zuvor fromm oder böse sein, ehe er gute
oder böse Werke thut
. Und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse,
sondern er macht gute oder böse Werke. Desgleichen sehen wir in allen Hand-
werken: ein gutes oder böses Haus macht keinen guten oder bösen Zimmermann,
sondern ein guter oder böser Zimmermann macht ein böses oder gutes Haus;
kein Werk macht einen Meister, danach das Werk ist, sondern wie der Meister ist,
danach ist sein Werk auch" (Von der Freiheit eines Christenmenschen).
3) Schon in alten Zeiten war bei den Israeliten "die ganze Idee von Gut
und Böse auf einen Geldtarif zurückgeführt" (R. Smith: Prophets of Israel, p. 105),
so dass Hosea klagen musste: "Die Priester fressen die Sündopfer meines Volkes,
und sind begierig nach ihren Sünden" (IV, 8). Ich erinnere mich, in Italien
einem wortbrüchigen Mann mit seinen eigenen Gewissensbissen gedroht zu haben;
"ach was! bester Herr", erwiderte er, "das war ja nur eine kleinere (!) Lüge; sieben
Jahre Fegfeuer, zehn Soldi wird mich das kosten!" Ich dachte, er habe mich zum
Besten, und als die beiden Franziskaner das nächste Mal an meine Thüre klopften,
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 40

Religion.
spitzte.1) Hieraus musste sich mit derselben Notwendigkeit die Religion
des Glaubens im Gegensatz zur Religion der Werke entwickeln, d. h.
Idealismus im Gegensatz zu Materialismus, innerliche, sittliche Umkehr
im Gegensatz zu semitischer Gesetzesheiligkeit und römischem Ablass-
kram. Hier halten wir übrigens ein vorzügliches Beispiel von der
Bedeutung der blossen Richtung, d. h. also der blossen Orientierung
im geistigen Raume. Denn nie hat irgend ein Mensch gelehrt, ein
Leben könne gut sein ohne gute Werke,2) und umgekehrt ist es die
stillschweigende Voraussetzung des Judentums und ein Religionssatz der
Römer, dass gute Werke ohne Glauben unnütz sind; an und für sich
ist also jede der beiden Auffassungen gleich edel und moralisch; je
nachdem aber das Eine oder das Andere betont wird, gelangt man dazu,
das Wesen der Religion in die innerliche Umwandlung des Menschen,
in seine Gesinnung, in seine ganze Art zu denken und zu fühlen zu
legen, oder aber es treten äussere Observanzen, äusserlich bewirkte
Erlösung, Buchführung über gute und böse Thaten und die Berechnung
der Sittlichkeit nach Art eines Guthabens ein.3) Kaum minder be-

1) Lamprecht, a. a. O., S. 193. Lamprecht selber hat, wie die meisten
unserer Zeitgenossen, keine Ahnung von dem Sinn dieser Erscheinung (die ich im
neunten Kapitel ausführlich erörtere). Er meint: »der sittliche Individualismus
schlummerte noch«!
2) Unglaublich ist es, wie noch heutigen Tages selbst in wissenschaftlichen
römischen Werken gelehrt wird (siehe z. B. Brück: Lehrbuch der Kirchengeschichte,
6. Auflage, S. 586), Luther habe gepredigt, wer glaube, möge nur lustig darauf los-
sündigen. Auf diese lasterhafte Dummheit genüge folgendes Citat als Erwiderung:
»Wie nun die Bäume müssen eher sein denn die Früchte, und die Früchte nicht
die Bäume weder gut noch böse machen, sondern die Bäume machen die Früchte,
also muss der Mensch in der Person zuvor fromm oder böse sein, ehe er gute
oder böse Werke thut
. Und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse,
sondern er macht gute oder böse Werke. Desgleichen sehen wir in allen Hand-
werken: ein gutes oder böses Haus macht keinen guten oder bösen Zimmermann,
sondern ein guter oder böser Zimmermann macht ein böses oder gutes Haus;
kein Werk macht einen Meister, danach das Werk ist, sondern wie der Meister ist,
danach ist sein Werk auch« (Von der Freiheit eines Christenmenschen).
3) Schon in alten Zeiten war bei den Israeliten »die ganze Idee von Gut
und Böse auf einen Geldtarif zurückgeführt« (R. Smith: Prophets of Israel, p. 105),
so dass Hosea klagen musste: »Die Priester fressen die Sündopfer meines Volkes,
und sind begierig nach ihren Sünden« (IV, 8). Ich erinnere mich, in Italien
einem wortbrüchigen Mann mit seinen eigenen Gewissensbissen gedroht zu haben;
»ach was! bester Herr«, erwiderte er, »das war ja nur eine kleinere (!) Lüge; sieben
Jahre Fegfeuer, zehn Soldi wird mich das kosten!« Ich dachte, er habe mich zum
Besten, und als die beiden Franziskaner das nächste Mal an meine Thüre klopften,
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 40
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[625/0104] Religion. spitzte. 1) Hieraus musste sich mit derselben Notwendigkeit die Religion des Glaubens im Gegensatz zur Religion der Werke entwickeln, d. h. Idealismus im Gegensatz zu Materialismus, innerliche, sittliche Umkehr im Gegensatz zu semitischer Gesetzesheiligkeit und römischem Ablass- kram. Hier halten wir übrigens ein vorzügliches Beispiel von der Bedeutung der blossen Richtung, d. h. also der blossen Orientierung im geistigen Raume. Denn nie hat irgend ein Mensch gelehrt, ein Leben könne gut sein ohne gute Werke, 2) und umgekehrt ist es die stillschweigende Voraussetzung des Judentums und ein Religionssatz der Römer, dass gute Werke ohne Glauben unnütz sind; an und für sich ist also jede der beiden Auffassungen gleich edel und moralisch; je nachdem aber das Eine oder das Andere betont wird, gelangt man dazu, das Wesen der Religion in die innerliche Umwandlung des Menschen, in seine Gesinnung, in seine ganze Art zu denken und zu fühlen zu legen, oder aber es treten äussere Observanzen, äusserlich bewirkte Erlösung, Buchführung über gute und böse Thaten und die Berechnung der Sittlichkeit nach Art eines Guthabens ein. 3) Kaum minder be- 1) Lamprecht, a. a. O., S. 193. Lamprecht selber hat, wie die meisten unserer Zeitgenossen, keine Ahnung von dem Sinn dieser Erscheinung (die ich im neunten Kapitel ausführlich erörtere). Er meint: »der sittliche Individualismus schlummerte noch«! 2) Unglaublich ist es, wie noch heutigen Tages selbst in wissenschaftlichen römischen Werken gelehrt wird (siehe z. B. Brück: Lehrbuch der Kirchengeschichte, 6. Auflage, S. 586), Luther habe gepredigt, wer glaube, möge nur lustig darauf los- sündigen. Auf diese lasterhafte Dummheit genüge folgendes Citat als Erwiderung: »Wie nun die Bäume müssen eher sein denn die Früchte, und die Früchte nicht die Bäume weder gut noch böse machen, sondern die Bäume machen die Früchte, also muss der Mensch in der Person zuvor fromm oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke thut. Und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er macht gute oder böse Werke. Desgleichen sehen wir in allen Hand- werken: ein gutes oder böses Haus macht keinen guten oder bösen Zimmermann, sondern ein guter oder böser Zimmermann macht ein böses oder gutes Haus; kein Werk macht einen Meister, danach das Werk ist, sondern wie der Meister ist, danach ist sein Werk auch« (Von der Freiheit eines Christenmenschen). 3) Schon in alten Zeiten war bei den Israeliten »die ganze Idee von Gut und Böse auf einen Geldtarif zurückgeführt« (R. Smith: Prophets of Israel, p. 105), so dass Hosea klagen musste: »Die Priester fressen die Sündopfer meines Volkes, und sind begierig nach ihren Sünden« (IV, 8). Ich erinnere mich, in Italien einem wortbrüchigen Mann mit seinen eigenen Gewissensbissen gedroht zu haben; »ach was! bester Herr«, erwiderte er, »das war ja nur eine kleinere (!) Lüge; sieben Jahre Fegfeuer, zehn Soldi wird mich das kosten!« Ich dachte, er habe mich zum Besten, und als die beiden Franziskaner das nächste Mal an meine Thüre klopften, Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 40

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 625. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/104>, abgerufen am 30.04.2024.