welche dem unbewaffneten Auge gar nicht sichtbar sind. Bei den blühenden Pflanzen kommen hauptsächlich Verhältnisse des Embryos, des Weiteren dann Verhältnisse der Fortpflanzungsorgane, Beziehungen der Blütenteile u. s. w. in Betracht, bei den nichtblühenden die aller- unsichtbarsten und scheinbar gleichgültigen Dinge, wie die Ringe an den Farnsporangien, die Zähne um die Sporenbehälter der Moose u. s. w. Hiermit hatte uns die Natur einen Ariadnefaden in die Hand gegeben, an dem wir tief in ihr Geheimnis eindringen sollten.
Was sich hier ereignete, verdient genaue Beachtung, denn es lehrt uns viel über den geschichtlichen Gang aller unserer Wissenschaften. Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, muss ich darum die Aufmerksamkeit des Lesers in noch eindringlicherer Weise auf das, was bei der Pflanzensystematik vorgegangen war, richten. Durch treues Sichversenken in ein sehr grosses Material hatte sich das Auge des Beobachters geschärft und er war dahin gelangt, Zusammenhänge zu ahnen, sie gewissermassen mit Augen zu sehen, ohne sich jedoch genaue Rechenschaft darüber abgeben zu können, und namentlich ohne dass er ein einfaches, sozusagen "mechanisches", sichtbares und nach- weisbares Merkmal gefunden hätte, woran er das Beobachtete end- gültig überzeugend hätte nachweisen können. So z. B. kann jedes Kind -- einmal aufmerksam gemacht -- Monokotyledonen und Dikotyledonen unterscheiden; es kann aber keinen Grund dafür an- geben, kein bestimmtes, sicheres Kennzeichen. Intuition liegt also hier (wie überall) offenbar zu Grunde. Über John Ray, den eigent- lichen Urheber der neueren Pflanzensystematik, berichtet sein Zeitgenosse, Antoine de Jussieu, ausdrücklich, er habe sich immer in den äusseren Habitus -- plantae facies exterior -- versenkt;1) derselbe John Ray war es nun, der die Bedeutung der Kotyledonen (Samenlappen) für eine natürliche Systematik der blühenden Pflanzen entdeckte, zugleich das einfache und unfehlbare anatomische Merkmal, um die Monokotyle- donen von den Dikotyledonen zu unterscheiden. Hiermit war ein ver- borgenes, meistens mikroskopisch winziges anatomisches Merkmal als massgebend, um die Bedürfnisse des Menschengeistes in Einklang mit den Thatsachen der Natur zu bringen, nachgewiesen. Dies führte nun zu weiteren Studien bezüglich der Anwesenheit oder Abwesenheit des Eiweisses im Samen, bezüglich der Lage des Keimchens im Ei-
1) Nach dem Citat in Hooker's Anhang zu der englischen Ausgabe von Le Maout and Decaisne: System of Botany, 1873, p. 987.
Die Entstehung einer neuen Welt.
welche dem unbewaffneten Auge gar nicht sichtbar sind. Bei den blühenden Pflanzen kommen hauptsächlich Verhältnisse des Embryos, des Weiteren dann Verhältnisse der Fortpflanzungsorgane, Beziehungen der Blütenteile u. s. w. in Betracht, bei den nichtblühenden die aller- unsichtbarsten und scheinbar gleichgültigen Dinge, wie die Ringe an den Farnsporangien, die Zähne um die Sporenbehälter der Moose u. s. w. Hiermit hatte uns die Natur einen Ariadnefaden in die Hand gegeben, an dem wir tief in ihr Geheimnis eindringen sollten.
Was sich hier ereignete, verdient genaue Beachtung, denn es lehrt uns viel über den geschichtlichen Gang aller unserer Wissenschaften. Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, muss ich darum die Aufmerksamkeit des Lesers in noch eindringlicherer Weise auf das, was bei der Pflanzensystematik vorgegangen war, richten. Durch treues Sichversenken in ein sehr grosses Material hatte sich das Auge des Beobachters geschärft und er war dahin gelangt, Zusammenhänge zu ahnen, sie gewissermassen mit Augen zu sehen, ohne sich jedoch genaue Rechenschaft darüber abgeben zu können, und namentlich ohne dass er ein einfaches, sozusagen »mechanisches«, sichtbares und nach- weisbares Merkmal gefunden hätte, woran er das Beobachtete end- gültig überzeugend hätte nachweisen können. So z. B. kann jedes Kind — einmal aufmerksam gemacht — Monokotyledonen und Dikotyledonen unterscheiden; es kann aber keinen Grund dafür an- geben, kein bestimmtes, sicheres Kennzeichen. Intuition liegt also hier (wie überall) offenbar zu Grunde. Über John Ray, den eigent- lichen Urheber der neueren Pflanzensystematik, berichtet sein Zeitgenosse, Antoine de Jussieu, ausdrücklich, er habe sich immer in den äusseren Habitus — plantae facies exterior — versenkt;1) derselbe John Ray war es nun, der die Bedeutung der Kotyledonen (Samenlappen) für eine natürliche Systematik der blühenden Pflanzen entdeckte, zugleich das einfache und unfehlbare anatomische Merkmal, um die Monokotyle- donen von den Dikotyledonen zu unterscheiden. Hiermit war ein ver- borgenes, meistens mikroskopisch winziges anatomisches Merkmal als massgebend, um die Bedürfnisse des Menschengeistes in Einklang mit den Thatsachen der Natur zu bringen, nachgewiesen. Dies führte nun zu weiteren Studien bezüglich der Anwesenheit oder Abwesenheit des Eiweisses im Samen, bezüglich der Lage des Keimchens im Ei-
1) Nach dem Citat in Hooker’s Anhang zu der englischen Ausgabe von Le Maout and Decaisne: System of Botany, 1873, p. 987.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
welche dem unbewaffneten Auge gar nicht sichtbar sind. Bei den
blühenden Pflanzen kommen hauptsächlich Verhältnisse des Embryos,
des Weiteren dann Verhältnisse der Fortpflanzungsorgane, Beziehungen
der Blütenteile u. s. w. in Betracht, bei den nichtblühenden die aller-
unsichtbarsten und scheinbar gleichgültigen Dinge, wie die Ringe an
den Farnsporangien, die Zähne um die Sporenbehälter der Moose u. s. w.
Hiermit hatte uns die Natur einen Ariadnefaden in die Hand gegeben,
an dem wir tief in ihr Geheimnis eindringen sollten.
Was sich hier ereignete, verdient genaue Beachtung, denn es lehrt
uns viel über den geschichtlichen Gang aller unserer Wissenschaften.
Selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, muss ich darum die
Aufmerksamkeit des Lesers in noch eindringlicherer Weise auf das,
was bei der Pflanzensystematik vorgegangen war, richten. Durch
treues Sichversenken in ein sehr grosses Material hatte sich das Auge
des Beobachters geschärft und er war dahin gelangt, Zusammenhänge
zu ahnen, sie gewissermassen mit Augen zu sehen, ohne sich jedoch
genaue Rechenschaft darüber abgeben zu können, und namentlich ohne
dass er ein einfaches, sozusagen »mechanisches«, sichtbares und nach-
weisbares Merkmal gefunden hätte, woran er das Beobachtete end-
gültig überzeugend hätte nachweisen können. So z. B. kann jedes
Kind — einmal aufmerksam gemacht — Monokotyledonen und
Dikotyledonen unterscheiden; es kann aber keinen Grund dafür an-
geben, kein bestimmtes, sicheres Kennzeichen. Intuition liegt also
hier (wie überall) offenbar zu Grunde. Über John Ray, den eigent-
lichen Urheber der neueren Pflanzensystematik, berichtet sein Zeitgenosse,
Antoine de Jussieu, ausdrücklich, er habe sich immer in den äusseren
Habitus — plantae facies exterior — versenkt; 1) derselbe John Ray
war es nun, der die Bedeutung der Kotyledonen (Samenlappen) für eine
natürliche Systematik der blühenden Pflanzen entdeckte, zugleich das
einfache und unfehlbare anatomische Merkmal, um die Monokotyle-
donen von den Dikotyledonen zu unterscheiden. Hiermit war ein ver-
borgenes, meistens mikroskopisch winziges anatomisches Merkmal als
massgebend, um die Bedürfnisse des Menschengeistes in Einklang mit
den Thatsachen der Natur zu bringen, nachgewiesen. Dies führte nun
zu weiteren Studien bezüglich der Anwesenheit oder Abwesenheit des
Eiweisses im Samen, bezüglich der Lage des Keimchens im Ei-
1) Nach dem Citat in Hooker’s Anhang zu der englischen Ausgabe von
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 792. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/271>, abgerufen am 17.06.2024.
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