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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
der größte Spielraum gegeben ist, Schranken setzten, indem
sie nicht dem Einflusse einzelner Personen, welche die mantische
Kunst gewerbmäßig trieben, sich hingaben, sondern Anstalten
gründeten an geweihten, durch Götterzeichen beglaubigten
Stätten, Orakelsitze, welche die umwohnenden Stämme zum
Volke vereinigten, das Völkerthümliche in Sitte, Recht und
Glauben hüteten und jeden gesunden Fortschritt des leiblichen
und geistigen Volkswohls förderten.

So erwuchs inmitten von Hellas ein mantisches National¬
heiligthum, das wirksamste Schutzmittel gegen die Unsitten und
Mißbräuche des Aberglaubens, ein centrales Heiligthum von
solcher Bedeutung, daß von dem Verhältnisse, in welchem die
einzelnen Staaten zu ihm standen, auch ihre Stellung in der
vaterländischen Geschichte abhängig war. Was außer Ver¬
bindung mit Delphi war, blieb in aller höheren Cultur zurück,
wie Arkadien und die Landschaften am Acheloos. Auch Böotien
blieb zurück mit seinen vielen einheimischen Orakeln und hier
begegnen wir am meisten Spuren eines orientalischen Aber¬
glaubens, ängstlicher Tagewählerei, Traumdeutung u. s. w.,
während dagegen die beiden Staaten, welche sich der delphi¬
schen Mantik am engsten anschlossen, auch den andern Staaten
in kräftiger Entwickelung vorangingen.

Aber auch zwischen ihnen ist ein merkwürdiger Gegensatz.
In Sparta ruhte das ganze Staatsgebäude auf mantischer
Grundlage, die Staatsgrundgesetze waren delphische Orakel¬
sprüche. Aber dies genügte nicht. Das öffentliche Leben wurde
in wesentlichen Punkten von Himmelszeichen und Sehersprüchen
abhängig gemacht. So erfolgte die neue Bestätigung der Kö¬
nige im neunten Regierungsjahre erst nach einer günstig aus¬
fallenden Himmelsbeobachtung; auch die Ephorenwahl scheint
an Auspicien geknüpft gewesen zu sein und Traumgesichter,
die im Tempel der Pasiphae erblickt waren, wurden geltend
gemacht, um politische Maßregeln durchzusetzen. So ist der
Staat des Lykurgos nicht nur von Delphi in einer beschränken¬
den Abhängigkeit geblieben, sondern auch in andere Formen
der Unfreiheit verfallen und hat sich zu einer vollen Selbst¬

Die Unfreiheit der alten Welt.
der größte Spielraum gegeben iſt, Schranken ſetzten, indem
ſie nicht dem Einfluſſe einzelner Perſonen, welche die mantiſche
Kunſt gewerbmäßig trieben, ſich hingaben, ſondern Anſtalten
gründeten an geweihten, durch Götterzeichen beglaubigten
Stätten, Orakelſitze, welche die umwohnenden Stämme zum
Volke vereinigten, das Völkerthümliche in Sitte, Recht und
Glauben hüteten und jeden geſunden Fortſchritt des leiblichen
und geiſtigen Volkswohls förderten.

So erwuchs inmitten von Hellas ein mantiſches National¬
heiligthum, das wirkſamſte Schutzmittel gegen die Unſitten und
Mißbräuche des Aberglaubens, ein centrales Heiligthum von
ſolcher Bedeutung, daß von dem Verhältniſſe, in welchem die
einzelnen Staaten zu ihm ſtanden, auch ihre Stellung in der
vaterländiſchen Geſchichte abhängig war. Was außer Ver¬
bindung mit Delphi war, blieb in aller höheren Cultur zurück,
wie Arkadien und die Landſchaften am Acheloos. Auch Böotien
blieb zurück mit ſeinen vielen einheimiſchen Orakeln und hier
begegnen wir am meiſten Spuren eines orientaliſchen Aber¬
glaubens, ängſtlicher Tagewählerei, Traumdeutung u. ſ. w.,
während dagegen die beiden Staaten, welche ſich der delphi¬
ſchen Mantik am engſten anſchloſſen, auch den andern Staaten
in kräftiger Entwickelung vorangingen.

Aber auch zwiſchen ihnen iſt ein merkwürdiger Gegenſatz.
In Sparta ruhte das ganze Staatsgebäude auf mantiſcher
Grundlage, die Staatsgrundgeſetze waren delphiſche Orakel¬
ſprüche. Aber dies genügte nicht. Das öffentliche Leben wurde
in weſentlichen Punkten von Himmelszeichen und Seherſprüchen
abhängig gemacht. So erfolgte die neue Beſtätigung der Kö¬
nige im neunten Regierungsjahre erſt nach einer günſtig aus¬
fallenden Himmelsbeobachtung; auch die Ephorenwahl ſcheint
an Auſpicien geknüpft geweſen zu ſein und Traumgeſichter,
die im Tempel der Paſiphae erblickt waren, wurden geltend
gemacht, um politiſche Maßregeln durchzuſetzen. So iſt der
Staat des Lykurgos nicht nur von Delphi in einer beſchränken¬
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[172/0188] Die Unfreiheit der alten Welt. der größte Spielraum gegeben iſt, Schranken ſetzten, indem ſie nicht dem Einfluſſe einzelner Perſonen, welche die mantiſche Kunſt gewerbmäßig trieben, ſich hingaben, ſondern Anſtalten gründeten an geweihten, durch Götterzeichen beglaubigten Stätten, Orakelſitze, welche die umwohnenden Stämme zum Volke vereinigten, das Völkerthümliche in Sitte, Recht und Glauben hüteten und jeden geſunden Fortſchritt des leiblichen und geiſtigen Volkswohls förderten. So erwuchs inmitten von Hellas ein mantiſches National¬ heiligthum, das wirkſamſte Schutzmittel gegen die Unſitten und Mißbräuche des Aberglaubens, ein centrales Heiligthum von ſolcher Bedeutung, daß von dem Verhältniſſe, in welchem die einzelnen Staaten zu ihm ſtanden, auch ihre Stellung in der vaterländiſchen Geſchichte abhängig war. Was außer Ver¬ bindung mit Delphi war, blieb in aller höheren Cultur zurück, wie Arkadien und die Landſchaften am Acheloos. Auch Böotien blieb zurück mit ſeinen vielen einheimiſchen Orakeln und hier begegnen wir am meiſten Spuren eines orientaliſchen Aber¬ glaubens, ängſtlicher Tagewählerei, Traumdeutung u. ſ. w., während dagegen die beiden Staaten, welche ſich der delphi¬ ſchen Mantik am engſten anſchloſſen, auch den andern Staaten in kräftiger Entwickelung vorangingen. Aber auch zwiſchen ihnen iſt ein merkwürdiger Gegenſatz. In Sparta ruhte das ganze Staatsgebäude auf mantiſcher Grundlage, die Staatsgrundgeſetze waren delphiſche Orakel¬ ſprüche. Aber dies genügte nicht. Das öffentliche Leben wurde in weſentlichen Punkten von Himmelszeichen und Seherſprüchen abhängig gemacht. So erfolgte die neue Beſtätigung der Kö¬ nige im neunten Regierungsjahre erſt nach einer günſtig aus¬ fallenden Himmelsbeobachtung; auch die Ephorenwahl ſcheint an Auſpicien geknüpft geweſen zu ſein und Traumgeſichter, die im Tempel der Paſiphae erblickt waren, wurden geltend gemacht, um politiſche Maßregeln durchzuſetzen. So iſt der Staat des Lykurgos nicht nur von Delphi in einer beſchränken¬ den Abhängigkeit geblieben, ſondern auch in andere Formen der Unfreiheit verfallen und hat ſich zu einer vollen Selbſt¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/188>, abgerufen am 31.10.2024.