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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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wie man angenommen hat, verirrten Schafe aus der Hürde der
Aoriste, die -- niemand sagt uns, warum? -- sich unter die
Präsensstämme geschlichen haben. Dies mag hier genügen,
nur um anzudeuten, dass es an dunkeln Punkten bei Fest-
haltung der neuen Hypothese wahrlich nicht fehlt. Ich kann
daher nicht glauben, dass es ein richtiges Verfahren war, die
Untersuchung über diese Frage, nachdem sie kaum begonnen
hatte, gleich für abgeschlossen zu halten und sofort das neue
Dogma als ausgemacht an die Spitze aller derartigen Unter-
suchungen zu stellen. Es ist das in dem Masse geschehen,
dass jetzt Kräfte zweiten und dritten Ranges, die an der
schweren Arbeit wirklicher Forschung keinen eignen Antheil
nehmen, alle die, welche diesem Zuge nicht folgen, als auf
einem veralteten Standpunkte befindlich bezeichnen. Ich glaube
gezeigt zu haben, dass meine Zweifel wenigstens nicht blosse
Grillen des Alters sind, sondern auf Gründen beruhen, welche
man vielleicht bekämpfen, aber nicht ignoriren kann. Das
Fragen und Forschen konnte natürlich die Wissenschaft nur an-
regen. Gegen Brugmann's Ausruf: Fiat experimentum! konnte
gewiss niemand etwas einwenden, aber es fragt sich nur, ob
das Experiment gelungen ist, und ob es nicht klüger war, mit
der Kanonisirung dieses Dogmas zu warten, bis man sich die
Zeit genommen hatte, die Gründe und Gegengründe etwas
ruhiger und umsichtiger aufs Korn zu nehmen. Das Beharren
bei einer Meinung, bis sie widerlegt ist, hat doch auch seine
Berechtigung in der Wissenschaft.

Ein zweiter Fall, in welchem die neueren Sprachforscher
sich in directen Gegensatz gegen die ältere Auffassung ge-
setzt haben, betrifft die Reihenfolge und den Ausgangspunkt
für den Vocalwechsel bei der sogenannten Stammabstufung.
Früher ging man von der kurzvocalischen Form, z. B. lip,
phug, sap, aus und betrachtete im Anschluss an die indische
Grammatik leip, pheug, sep als gesteigerte Formen (vgl.
sanskr. guna). Die neuere Ansicht gipfelt in dem Ausruf eines

wie man angenommen hat, verirrten Schafe aus der Hürde der
Aoriste, die — niemand sagt uns, warum? — sich unter die
Präsensstämme geschlichen haben. Dies mag hier genügen,
nur um anzudeuten, dass es an dunkeln Punkten bei Fest-
haltung der neuen Hypothese wahrlich nicht fehlt. Ich kann
daher nicht glauben, dass es ein richtiges Verfahren war, die
Untersuchung über diese Frage, nachdem sie kaum begonnen
hatte, gleich für abgeschlossen zu halten und sofort das neue
Dogma als ausgemacht an die Spitze aller derartigen Unter-
suchungen zu stellen. Es ist das in dem Masse geschehen,
dass jetzt Kräfte zweiten und dritten Ranges, die an der
schweren Arbeit wirklicher Forschung keinen eignen Antheil
nehmen, alle die, welche diesem Zuge nicht folgen, als auf
einem veralteten Standpunkte befindlich bezeichnen. Ich glaube
gezeigt zu haben, dass meine Zweifel wenigstens nicht blosse
Grillen des Alters sind, sondern auf Gründen beruhen, welche
man vielleicht bekämpfen, aber nicht ignoriren kann. Das
Fragen und Forschen konnte natürlich die Wissenschaft nur an-
regen. Gegen Brugmann's Ausruf: Fiat experimentum! konnte
gewiss niemand etwas einwenden, aber es fragt sich nur, ob
das Experiment gelungen ist, und ob es nicht klüger war, mit
der Kanonisirung dieses Dogmas zu warten, bis man sich die
Zeit genommen hatte, die Gründe und Gegengründe etwas
ruhiger und umsichtiger aufs Korn zu nehmen. Das Beharren
bei einer Meinung, bis sie widerlegt ist, hat doch auch seine
Berechtigung in der Wissenschaft.

Ein zweiter Fall, in welchem die neueren Sprachforscher
sich in directen Gegensatz gegen die ältere Auffassung ge-
setzt haben, betrifft die Reihenfolge und den Ausgangspunkt
für den Vocalwechsel bei der sogenannten Stammabstufung.
Früher ging man von der kurzvocalischen Form, z. B. λιπ,
φυγ, σαπ, aus und betrachtete im Anschluss an die indische
Grammatik λειπ, φευγ, σηπ als gesteigerte Formen (vgl.
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[120/0128] wie man angenommen hat, verirrten Schafe aus der Hürde der Aoriste, die — niemand sagt uns, warum? — sich unter die Präsensstämme geschlichen haben. Dies mag hier genügen, nur um anzudeuten, dass es an dunkeln Punkten bei Fest- haltung der neuen Hypothese wahrlich nicht fehlt. Ich kann daher nicht glauben, dass es ein richtiges Verfahren war, die Untersuchung über diese Frage, nachdem sie kaum begonnen hatte, gleich für abgeschlossen zu halten und sofort das neue Dogma als ausgemacht an die Spitze aller derartigen Unter- suchungen zu stellen. Es ist das in dem Masse geschehen, dass jetzt Kräfte zweiten und dritten Ranges, die an der schweren Arbeit wirklicher Forschung keinen eignen Antheil nehmen, alle die, welche diesem Zuge nicht folgen, als auf einem veralteten Standpunkte befindlich bezeichnen. Ich glaube gezeigt zu haben, dass meine Zweifel wenigstens nicht blosse Grillen des Alters sind, sondern auf Gründen beruhen, welche man vielleicht bekämpfen, aber nicht ignoriren kann. Das Fragen und Forschen konnte natürlich die Wissenschaft nur an- regen. Gegen Brugmann's Ausruf: Fiat experimentum! konnte gewiss niemand etwas einwenden, aber es fragt sich nur, ob das Experiment gelungen ist, und ob es nicht klüger war, mit der Kanonisirung dieses Dogmas zu warten, bis man sich die Zeit genommen hatte, die Gründe und Gegengründe etwas ruhiger und umsichtiger aufs Korn zu nehmen. Das Beharren bei einer Meinung, bis sie widerlegt ist, hat doch auch seine Berechtigung in der Wissenschaft. Ein zweiter Fall, in welchem die neueren Sprachforscher sich in directen Gegensatz gegen die ältere Auffassung ge- setzt haben, betrifft die Reihenfolge und den Ausgangspunkt für den Vocalwechsel bei der sogenannten Stammabstufung. Früher ging man von der kurzvocalischen Form, z. B. λιπ, φυγ, σαπ, aus und betrachtete im Anschluss an die indische Grammatik λειπ, φευγ, σηπ als gesteigerte Formen (vgl. sanskr. guṇa). Die neuere Ansicht gipfelt in dem Ausruf eines

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/128>, abgerufen am 30.04.2024.