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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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im Vorstellungsleben entstehen, Bildungsprocesse des pdi_360.005
Wahrnehmens oder Denkens in ihm angeregt werden und pdi_360.006
natürlich auch der Stand der Gefühle sich ändert, so entspringen pdi_360.007
hieraus Antriebe, die auf die Aussenwelt zurückwirken. Denn die pdi_360.008
Gefühle rufen unter bestimmten Bedingungen des seelischen Zusammenhangs pdi_360.009
Willensvorgänge hervor. So entsteht eine andere pdi_360.010
Classe von Bildungsprocessen von den Willensvorgängen pdi_360.011
aus. Der Willensvorgang entspringt nicht aus den Vorstellungen pdi_360.012
und dem Gefühl durch den blossen Hinzutritt des physiologischen pdi_360.013
Vorgangs im motorischen System; das beweist die innere Willenshandlung. pdi_360.014
Er ist vielmehr für unsere innere Erfahrung eine pdi_360.015
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uns bei unserem beschreibenden Verfahren. Wir unterscheiden pdi_360.017
nun äussere Willenshandlungen, welche unserem Innenleben pdi_360.018
und seinen Bedürfnissen die Aussenwelt anpassen, und Vorgänge pdi_360.019
der Natur beherrschen oder solche der Gesellschaft leiten pdi_360.020
wollen, von inneren Willenshandlungen, welche den Gang unserer pdi_360.021
Vorstellungen, Gefühle und Leidenschaften lenken. Unsere pdi_360.022
äusseren Willenshandlungen bringen das wirthschaftliche Leben, pdi_360.023
die Rechts- und Staatsordnung, die Naturbeherrschung hervor. pdi_360.024
Aus den inneren Willenshandlungen entspringen unter Anderem pdi_360.025
die innere sittliche Bildung und der von dieser getragene religiöse pdi_360.026
Vorgang. Denn der religiöse Vorgang ist zwar zunächst auch pdi_360.027
mit den äusseren Willenshandlungen verflochten: der Mensch pdi_360.028
möchte sich durch seine religiösen Acte das Gelingen seiner pdi_360.029
äusseren Handlungen sichern. Er ist auch mit den primitiven pdi_360.030
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um ihn, das ihn bedingt und auf ihm lastet, durchdringen. Aber pdi_360.032
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des religiösen Vorgangs bei entwickelterer Cultur. Und nun pdi_360.034
stehen mit den Willenshandlungen mannigfache Bildungsprocesse pdi_360.035
der Vorstellungen in Zusammenhang. Ihr gemeinsames Merkmal pdi_360.036
ist, dass die Inhalte des Willens und die Verhältnisse in ihm

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  Wenn so von den Eindrücken der Aussenwelt her Veränderungen pdi_360.004
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/62>, abgerufen am 30.04.2024.