Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren, So fest, daß ohne Zittern sie den Stein Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein? Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, Zu wägen jedes Wort, das unvergessen In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, Des Vorurtheils geheimen Seelendieb? Du Glücklicher, geboren und gehegt Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, Leg' hin die Wagschal', nimmer dir erlaubt! Laß ruh'n den Stein -- er trifft dein eignes Haupt! --
Friederich Mergel, geboren 1738, war der Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grund- eigenthümers geringer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heer- straßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte, und einer Reise von 30 Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte
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Wo iſt die Hand ſo zart, daß ohne Irren Sie ſondern mag beſchränkten Hirnes Wirren, So feſt, daß ohne Zittern ſie den Stein Mag ſchleudern auf ein arm verkümmert Sein? Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu meſſen, Zu wägen jedes Wort, das unvergeſſen In junge Bruſt die zähen Wurzeln trieb, Des Vorurtheils geheimen Seelendieb? Du Glücklicher, geboren und gehegt Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, Leg’ hin die Wagſchal’, nimmer dir erlaubt! Laß ruh’n den Stein — er trifft dein eignes Haupt! —
Friederich Mergel, geboren 1738, war der Sohn eines ſogenannten Halbmeiers oder Grund- eigenthümers geringer Klaſſe im Dorfe B., das, ſo ſchlecht gebaut und rauchig es ſein mag, doch das Auge jedes Reiſenden feſſelt durch die überaus maleriſche Schönheit ſeiner Lage in der grünen Waldſchlucht eines bedeutenden und geſchichtlich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen dem es angehörte, war damals einer jener abgeſchloſſenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heer- ſtraßen, wo noch ein fremdes Geſicht Aufſehen erregte, und einer Reiſe von 30 Meilen ſelbſt den Vornehmeren zum Ulyſſes ſeiner Gegend machte
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[[145]/0161]
Wo iſt die Hand ſo zart, daß ohne Irren
Sie ſondern mag beſchränkten Hirnes Wirren,
So feſt, daß ohne Zittern ſie den Stein
Mag ſchleudern auf ein arm verkümmert Sein?
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu meſſen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergeſſen
In junge Bruſt die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurtheils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg’ hin die Wagſchal’, nimmer dir erlaubt!
Laß ruh’n den Stein — er trifft dein eignes
Haupt! —
Friederich Mergel, geboren 1738, war der
Sohn eines ſogenannten Halbmeiers oder Grund-
eigenthümers geringer Klaſſe im Dorfe B., das,
ſo ſchlecht gebaut und rauchig es ſein mag, doch
das Auge jedes Reiſenden feſſelt durch die überaus
maleriſche Schönheit ſeiner Lage in der grünen
Waldſchlucht eines bedeutenden und geſchichtlich
merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen dem es
angehörte, war damals einer jener abgeſchloſſenen
Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heer-
ſtraßen, wo noch ein fremdes Geſicht Aufſehen
erregte, und einer Reiſe von 30 Meilen ſelbſt den
Vornehmeren zum Ulyſſes ſeiner Gegend machte
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schücking aus dem Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs herausgegeben, enthalten mehrere Texte, die zum Teil zu Lebzeiten der Autorin bereits andernorts veröffentlicht worden waren. Beispielsweise erschien Droste-Hülshoffs Novelle "Die Judenbuche" zuerst 1842 im "Morgenblatt für gebildete Leser"; die "Westfälischen Schilderungen" erschienen 1845 in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". Einzelne Gedichte sind in Journalen und Jahrbüchern erschienen, andere wurden aus dem Nachlass erstmals in der hier digitalisierten Edition von Levin Schücking veröffentlicht (z.B. die Gedichte "Der Nachtwanderer", "Doppeltgänger" und "Halt fest!"). In den meisten Fällen handelt es sich somit nicht um Erstveröffentlichungen der Texte, wohl aber um die erste Publikation in Buchform, weshalb die Nachlassedition für das DTA herangezogen wurde.
Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. [145]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/161>, abgerufen am 16.06.2024.
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