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Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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schrieben -- er gleicht ihm außerordentlich, es ist offenbar -- es ist ein Wink von oben.

Der Graf bedachte nicht, daß der Tod seines einzigen Kindes ein viel deutlicherer Wink gewesen -- er nahm Artmann, der eben hereintrat, das Päckchen aus der Hand und sagte zu Therese:

Ich bitte Sie, ziehen Sie dem Kinde diese Kleider meines Bernhard an, und bringen Sie mir ihn dann, ich möchte sehen, ob es möglich ist, sich zu täuschen und ihn für mein verstorbenes Kind zu halten.

Therese wagte dem todtblassen Manne, den die Thränen am Reden hinderten, nicht zu widersprechen, obgleich sie seine Zumuthung nicht begriff, trug ihr Kind ins Nebenzimmer und zog ihm das feine Brüsseler Battisthemdchen, die gestickten Höschen, das himmelblaue Kasimirkittelchen und das schwarzsammtne Jäckchen in möglichster Eile an und schnürte die bunten russischen Stiefelchen an seine runden Füße, dann scheitelte sie halb absichtslos die kurzen blonden Löckchen ihres Kindes in derselben Art, wie sie gesehen, daß der kleine Bernhard seine Löckchen trug, und führte so ihr Kind zum Grafen zurück.

Als sie eintrat, stürzte der unglückliche Vater auf ihr Kind zu, hob es hoch auf und rief: Ja du bist so wie er; der barmherzige Gott hat dich mir gesandt, und Jedermann soll dich hinfür für mein Kind halten.

Das Kind, das mir ein paar Wochen mehr als ein Jahr zählte und das natürlich noch nicht sprechen

schrieben — er gleicht ihm außerordentlich, es ist offenbar — es ist ein Wink von oben.

Der Graf bedachte nicht, daß der Tod seines einzigen Kindes ein viel deutlicherer Wink gewesen — er nahm Artmann, der eben hereintrat, das Päckchen aus der Hand und sagte zu Therese:

Ich bitte Sie, ziehen Sie dem Kinde diese Kleider meines Bernhard an, und bringen Sie mir ihn dann, ich möchte sehen, ob es möglich ist, sich zu täuschen und ihn für mein verstorbenes Kind zu halten.

Therese wagte dem todtblassen Manne, den die Thränen am Reden hinderten, nicht zu widersprechen, obgleich sie seine Zumuthung nicht begriff, trug ihr Kind ins Nebenzimmer und zog ihm das feine Brüsseler Battisthemdchen, die gestickten Höschen, das himmelblaue Kasimirkittelchen und das schwarzsammtne Jäckchen in möglichster Eile an und schnürte die bunten russischen Stiefelchen an seine runden Füße, dann scheitelte sie halb absichtslos die kurzen blonden Löckchen ihres Kindes in derselben Art, wie sie gesehen, daß der kleine Bernhard seine Löckchen trug, und führte so ihr Kind zum Grafen zurück.

Als sie eintrat, stürzte der unglückliche Vater auf ihr Kind zu, hob es hoch auf und rief: Ja du bist so wie er; der barmherzige Gott hat dich mir gesandt, und Jedermann soll dich hinfür für mein Kind halten.

Das Kind, das mir ein paar Wochen mehr als ein Jahr zählte und das natürlich noch nicht sprechen

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[0033] schrieben — er gleicht ihm außerordentlich, es ist offenbar — es ist ein Wink von oben. Der Graf bedachte nicht, daß der Tod seines einzigen Kindes ein viel deutlicherer Wink gewesen — er nahm Artmann, der eben hereintrat, das Päckchen aus der Hand und sagte zu Therese: Ich bitte Sie, ziehen Sie dem Kinde diese Kleider meines Bernhard an, und bringen Sie mir ihn dann, ich möchte sehen, ob es möglich ist, sich zu täuschen und ihn für mein verstorbenes Kind zu halten. Therese wagte dem todtblassen Manne, den die Thränen am Reden hinderten, nicht zu widersprechen, obgleich sie seine Zumuthung nicht begriff, trug ihr Kind ins Nebenzimmer und zog ihm das feine Brüsseler Battisthemdchen, die gestickten Höschen, das himmelblaue Kasimirkittelchen und das schwarzsammtne Jäckchen in möglichster Eile an und schnürte die bunten russischen Stiefelchen an seine runden Füße, dann scheitelte sie halb absichtslos die kurzen blonden Löckchen ihres Kindes in derselben Art, wie sie gesehen, daß der kleine Bernhard seine Löckchen trug, und führte so ihr Kind zum Grafen zurück. Als sie eintrat, stürzte der unglückliche Vater auf ihr Kind zu, hob es hoch auf und rief: Ja du bist so wie er; der barmherzige Gott hat dich mir gesandt, und Jedermann soll dich hinfür für mein Kind halten. Das Kind, das mir ein paar Wochen mehr als ein Jahr zählte und das natürlich noch nicht sprechen

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T15:13:13Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T15:13:13Z)

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Zitationshilfe: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 105–175. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_luege_1910/33>, abgerufen am 30.04.2024.