Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Alten ein neues Gedicht, eine neue Rede hervorzubrin-
gen glaubten.

Eine Tragödie, der goldene Regen, kleinere Ge-
dichte, der Cyclop, Galathee, u. s. w. zeigen genug-
sam, daß wenn man ihn auch nicht eigentlich einen
Poeten nennen darf, einen solchen, der einen Gegen-
stand zu beleben, das Zerstreute zur Einheit zwingen
kann; so müssen wir doch außer seiner antiquarischen
Bildung, einen aufmerksamen Blick in die Welt, ein
zartes Gemüth an ihm rühmen. Er behandelt die
Spinne, den Leuchtwurm, das Rohr, auf eine Weise,
die uns überzeugt, daß er in der Mittelgattung von
Dichtkunst, in der beschreibenden, noch manches erfreu-
liche hätte leisten können. Uns steht er als Repräsen-
tant mancher seiner Zeitgenossen da, die das Wissen
mit Anmuth behandelten, und der Anmuth etwas Ge-
wußtes unterzulegen nöthig fanden.

Mit welchem freyen, liebe- und ehrfurchtsvollen
Blick er die Natur angesehen, davon zeugen wenige
Verse, die wir zu seinem Angedenken hier einzurücken
uns nicht enthalten können.

Omniparens natura, hominum rerumque creatrix,
Difficilis, facilis, similis tibi, dissimilisque,
Nulligena, indefessa, ferax, te pulchrior ipsa,
Solaque quae tecum certas, te et victa revincis.
Omnia me nimis afficiunt, quo lumina cunque
Verto libens, nihil est non mirum. Daedala quod tu

Alten ein neues Gedicht, eine neue Rede hervorzubrin-
gen glaubten.

Eine Tragoͤdie, der goldene Regen, kleinere Ge-
dichte, der Cyclop, Galathee, u. ſ. w. zeigen genug-
ſam, daß wenn man ihn auch nicht eigentlich einen
Poeten nennen darf, einen ſolchen, der einen Gegen-
ſtand zu beleben, das Zerſtreute zur Einheit zwingen
kann; ſo muͤſſen wir doch außer ſeiner antiquariſchen
Bildung, einen aufmerkſamen Blick in die Welt, ein
zartes Gemuͤth an ihm ruͤhmen. Er behandelt die
Spinne, den Leuchtwurm, das Rohr, auf eine Weiſe,
die uns uͤberzeugt, daß er in der Mittelgattung von
Dichtkunſt, in der beſchreibenden, noch manches erfreu-
liche haͤtte leiſten koͤnnen. Uns ſteht er als Repraͤſen-
tant mancher ſeiner Zeitgenoſſen da, die das Wiſſen
mit Anmuth behandelten, und der Anmuth etwas Ge-
wußtes unterzulegen noͤthig fanden.

Mit welchem freyen, liebe- und ehrfurchtsvollen
Blick er die Natur angeſehen, davon zeugen wenige
Verſe, die wir zu ſeinem Angedenken hier einzuruͤcken
uns nicht enthalten koͤnnen.

Omniparens natura, hominum rerumque creatrix,
Difficilis, facilis, similis tibi, dissimilisque,
Nulligena, indefessa, ferax, te pulchrior ipsa,
Solaque quae tecum certas, te et victa revincis.
Omnia me nimis afficiunt, quo lumina cunque
Verto libens, nihil est non mirum. Daedala quod tu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0230" n="196"/>
Alten ein neues Gedicht, eine neue Rede hervorzubrin-<lb/>
gen glaubten.</p><lb/>
          <p>Eine Trago&#x0364;die, der goldene Regen, kleinere Ge-<lb/>
dichte, der Cyclop, Galathee, u. &#x017F;. w. zeigen genug-<lb/>
&#x017F;am, daß wenn man ihn auch nicht eigentlich einen<lb/>
Poeten nennen darf, einen &#x017F;olchen, der einen Gegen-<lb/>
&#x017F;tand zu beleben, das Zer&#x017F;treute zur Einheit zwingen<lb/>
kann; &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir doch außer &#x017F;einer antiquari&#x017F;chen<lb/>
Bildung, einen aufmerk&#x017F;amen Blick in die Welt, ein<lb/>
zartes Gemu&#x0364;th an ihm ru&#x0364;hmen. Er behandelt die<lb/>
Spinne, den Leuchtwurm, das Rohr, auf eine Wei&#x017F;e,<lb/>
die uns u&#x0364;berzeugt, daß er in der Mittelgattung von<lb/>
Dichtkun&#x017F;t, in der be&#x017F;chreibenden, noch manches erfreu-<lb/>
liche ha&#x0364;tte lei&#x017F;ten ko&#x0364;nnen. Uns &#x017F;teht er als Repra&#x0364;&#x017F;en-<lb/>
tant mancher &#x017F;einer Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en da, die das Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
mit Anmuth behandelten, und der Anmuth etwas Ge-<lb/>
wußtes unterzulegen no&#x0364;thig fanden.</p><lb/>
          <p>Mit welchem freyen, liebe- und ehrfurchtsvollen<lb/>
Blick er die Natur ange&#x017F;ehen, davon zeugen wenige<lb/>
Ver&#x017F;e, die wir zu &#x017F;einem Angedenken hier einzuru&#x0364;cken<lb/>
uns nicht enthalten ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l> <hi rendition="#aq">Omniparens natura, hominum rerumque creatrix,</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Difficilis, facilis, similis tibi, dissimilisque,</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Nulligena, indefessa, ferax, te pulchrior ipsa,</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Solaque quae tecum certas, te et victa revincis.</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Omnia me nimis afficiunt, quo lumina cunque</hi> </l><lb/>
            <l> <hi rendition="#aq">Verto libens, nihil est non mirum. Daedala quod tu</hi> </l><lb/>
            <l>
</l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0230] Alten ein neues Gedicht, eine neue Rede hervorzubrin- gen glaubten. Eine Tragoͤdie, der goldene Regen, kleinere Ge- dichte, der Cyclop, Galathee, u. ſ. w. zeigen genug- ſam, daß wenn man ihn auch nicht eigentlich einen Poeten nennen darf, einen ſolchen, der einen Gegen- ſtand zu beleben, das Zerſtreute zur Einheit zwingen kann; ſo muͤſſen wir doch außer ſeiner antiquariſchen Bildung, einen aufmerkſamen Blick in die Welt, ein zartes Gemuͤth an ihm ruͤhmen. Er behandelt die Spinne, den Leuchtwurm, das Rohr, auf eine Weiſe, die uns uͤberzeugt, daß er in der Mittelgattung von Dichtkunſt, in der beſchreibenden, noch manches erfreu- liche haͤtte leiſten koͤnnen. Uns ſteht er als Repraͤſen- tant mancher ſeiner Zeitgenoſſen da, die das Wiſſen mit Anmuth behandelten, und der Anmuth etwas Ge- wußtes unterzulegen noͤthig fanden. Mit welchem freyen, liebe- und ehrfurchtsvollen Blick er die Natur angeſehen, davon zeugen wenige Verſe, die wir zu ſeinem Angedenken hier einzuruͤcken uns nicht enthalten koͤnnen. Omniparens natura, hominum rerumque creatrix, Difficilis, facilis, similis tibi, dissimilisque, Nulligena, indefessa, ferax, te pulchrior ipsa, Solaque quae tecum certas, te et victa revincis. Omnia me nimis afficiunt, quo lumina cunque Verto libens, nihil est non mirum. Daedala quod tu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/230
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/230>, abgerufen am 30.04.2024.