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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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und lebendig machen für die Empfindung. Der Duft der pgo_034.002
Empfindung muß über allen Bildern zittern, die sie entrollt. Unsere pgo_034.003
beiden größten Dichter, Schiller und Goethe, haben sich in diesem Sinne pgo_034.004
ausgesprochen. Schiller sagt: "Jeden, der im Stande ist, seinen pgo_034.005
Empfindungszustand in ein Object zu legen, so daß dieses Object pgo_034.006
mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig pgo_034.007
auf mich wirkt, nenne ich einen Dichter," und Goethe: "Lebendiges pgo_034.008
Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den pgo_034.009
Dichter." Während man bei der Schiller'schen Erklärung blos an die pgo_034.010
Lyrik denkt oder selbst an die Musik denken kann, spricht Goethe klarer pgo_034.011
aus, wie es mit der Empfindung des Dichters steht. Denn in der That pgo_034.012
würde man fragen können, ob und wo z. B. in der beschaulichen Darstellung pgo_034.013
des Epos die Empfindung zu ihrem Rechte komme? Die pgo_034.014
hier gemeinte Empfindung des Dichters ist aber nicht blos das Gefühl pgo_034.015
der eigenen Seelenlage; sie ist das "lebendige Gefühl der Zustände," und pgo_034.016
dies soll sie auch hervorzaubern. Die Sonne der Poesie soll nicht blos pgo_034.017
das Memnonsbild beleuchten; sie soll es innerlich erzittern machen. pgo_034.018
Der Dichter muß die Welt in seine Empfindung aufgenommen pgo_034.019
haben, ehe er sie aus derselben herausgebiert. Ueber den plastisch festen pgo_034.020
Gestalten Homer's schwebt jene unbeschreibbare Klarheit und Heiterkeit, pgo_034.021
der jonische Himmel seiner Seele, der sich in allen Bildern spiegelt, die pgo_034.022
er schildert, der jedes Gemüth in einen gleichen Aether taucht. Ueber pgo_034.023
den so scharfen Charakteren Shakespeare's, die in der Bestimmtheit ihrer pgo_034.024
Züge bis zum Schroffen, Eckigen und Verzerrten fortgehen, über dieser pgo_034.025
so reich ausgemalten Welt des Handelns zittert jener Duft der Wehmuth, pgo_034.026
welche diese Welt der Täuschung, des Scheins wie einen großen pgo_034.027
Traum anschaut, und über jeder Scene schwebt das unsichtbare Motto:

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Wir sind solcher Stoff, pgo_034.029
Wie der von Träumen, und dies kleine Leben pgo_034.030
Umfängt ein Schlaf!

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So intensiv empfindet freilich nur der Genius! Er kann die Gestalt pgo_034.032
mit höchster Anschaulichkeit loslösen, die Charaktere und ihre Zwecke zu pgo_034.033
größter Selbstständigkeit befreien; aber was sie sind, sind sie nur durch pgo_034.034
die Kraft seiner Empfindung, welche die Seele dieser ganzen erschaffenen pgo_034.035
Welt ist.

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Wie der von Träumen, und dies kleine Leben pgo_034.030
Umfängt ein Schlaf!

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So intensiv empfindet freilich nur der Genius! Er kann die Gestalt pgo_034.032
mit höchster Anschaulichkeit loslösen, die Charaktere und ihre Zwecke zu pgo_034.033
größter Selbstständigkeit befreien; aber was sie sind, sind sie nur durch pgo_034.034
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[34/0056] pgo_034.001 und lebendig machen für die Empfindung. Der Duft der pgo_034.002 Empfindung muß über allen Bildern zittern, die sie entrollt. Unsere pgo_034.003 beiden größten Dichter, Schiller und Goethe, haben sich in diesem Sinne pgo_034.004 ausgesprochen. Schiller sagt: „Jeden, der im Stande ist, seinen pgo_034.005 Empfindungszustand in ein Object zu legen, so daß dieses Object pgo_034.006 mich nöthigt, in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig pgo_034.007 auf mich wirkt, nenne ich einen Dichter,“ und Goethe: „Lebendiges pgo_034.008 Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den pgo_034.009 Dichter.“ Während man bei der Schiller'schen Erklärung blos an die pgo_034.010 Lyrik denkt oder selbst an die Musik denken kann, spricht Goethe klarer pgo_034.011 aus, wie es mit der Empfindung des Dichters steht. Denn in der That pgo_034.012 würde man fragen können, ob und wo z. B. in der beschaulichen Darstellung pgo_034.013 des Epos die Empfindung zu ihrem Rechte komme? Die pgo_034.014 hier gemeinte Empfindung des Dichters ist aber nicht blos das Gefühl pgo_034.015 der eigenen Seelenlage; sie ist das „lebendige Gefühl der Zustände,“ und pgo_034.016 dies soll sie auch hervorzaubern. Die Sonne der Poesie soll nicht blos pgo_034.017 das Memnonsbild beleuchten; sie soll es innerlich erzittern machen. pgo_034.018 Der Dichter muß die Welt in seine Empfindung aufgenommen pgo_034.019 haben, ehe er sie aus derselben herausgebiert. Ueber den plastisch festen pgo_034.020 Gestalten Homer's schwebt jene unbeschreibbare Klarheit und Heiterkeit, pgo_034.021 der jonische Himmel seiner Seele, der sich in allen Bildern spiegelt, die pgo_034.022 er schildert, der jedes Gemüth in einen gleichen Aether taucht. Ueber pgo_034.023 den so scharfen Charakteren Shakespeare's, die in der Bestimmtheit ihrer pgo_034.024 Züge bis zum Schroffen, Eckigen und Verzerrten fortgehen, über dieser pgo_034.025 so reich ausgemalten Welt des Handelns zittert jener Duft der Wehmuth, pgo_034.026 welche diese Welt der Täuschung, des Scheins wie einen großen pgo_034.027 Traum anschaut, und über jeder Scene schwebt das unsichtbare Motto: pgo_034.028 Wir sind solcher Stoff, pgo_034.029 Wie der von Träumen, und dies kleine Leben pgo_034.030 Umfängt ein Schlaf! pgo_034.031 So intensiv empfindet freilich nur der Genius! Er kann die Gestalt pgo_034.032 mit höchster Anschaulichkeit loslösen, die Charaktere und ihre Zwecke zu pgo_034.033 größter Selbstständigkeit befreien; aber was sie sind, sind sie nur durch pgo_034.034 die Kraft seiner Empfindung, welche die Seele dieser ganzen erschaffenen pgo_034.035 Welt ist.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/56>, abgerufen am 30.04.2024.