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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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scher, unmittelbare und eindringlicher. In Paris, wo jede geistige und
materielle That im Zusammenhange mit den socialen Verhältnissen stehen
muß, hat auch das Christenthum sich herablassen müssen, den gesellschaft¬
lichen Gebräuchen sich anzuschmiegen, und der Abbe Lacordaire hat die
Schwächen dieser Gebräuche so durchschaut, daß sie ihm als Gängelband
dienen, woran er die Menge leitet. Die Zeit des Classizismus ist vorüber
und die Bossuets, Bourdalous würden die Kirchen ebenso leer lassen,
wie Racine und Corneille die Schauspielhäuser. Der Dominikaner Lacor¬
daire weiß dieß sehr wohl; er hat deßhalb der modernen Literatur ihre
Schlagworte und Farbeneffekte abgelernt und man könnte ihn den Apostel
der romantischen Schule in der Kanzelberedsamkeit nennen. Von seinem
Berufe begeistert, und innig von dem Worte überzeugt, welches er lehrt,
scheut dieser Mann keine der raffinirten Lockmittel, welche die heutige Ge¬
sellschaft in Bewegung setzen. Alle Effekte sind ihm willkommen, aller thea¬
tralischer Pomp der Deklamation, der Erscheinung. Er begnügt sich nicht mit
dem einen oder andern Orte, sondern wie ein Schauspieler reist er von Stadt
zu Stadt, um Gastdarstellungen zu geben. Tagelang vorher läßt er sich in
den Journalen ankündigen, und in großen Lettern findet man die Annonce:
Pater Lacordaire werde an diesem oder jenem Tage in dieser oder jener
Kirche, und zwar "in seinem Costüme als Dominikaner" predigen
u. s. w.; da strömt denn freilich die Creme der pariser Fashion durch die
Kirchthüren, denn Kirche oder Schauspiel! Sie will ja nur sehen und ge¬
sehen werden, sie sucht ja nur ein Mittel um ihre erstarrte Salonsunter¬
haltung anzufrischen, ein Stichwort der Gesellschaft, und ihr ist es gleich,
ob es eine schauspielerische Jüdin oder ein predigender Mönch ist -- wenn
nur die Mode sie zum Stichwort nimmt. Aber Lacordaire weiß diese eitle,
leichtsinnige Masse zu fassen und einmal in seiner Nähe, einmal in dem
weiten kirchlichen Raume, den seine Stimme beherrscht, weiß er sie festzu¬
halten und mit demselben Geiste, mit dem er sie angezogen, weiß er sie
auch zu bannen.

Die Anregung über diesen merkwürdigen Priester zu sprechen, giebt uns
eine von ihm verfaßte Denkschrift über die religiösen Orden, von der so
eben die zweite Auflage erscheint. Wir glauben unsere Leser zu verpflich¬
ten, indem wir ihnen einige charakteristische Bruchstücke aus derselben vor¬
führen.

Der Abbe Lacordaire ist ohnstreitig eines jener großen socialen
Talente, an welchen Frankreich von jeher gesegnet war, und mittelst derer
die französischen Ideen, Sitten und Worte ein solches Uebergewicht in Eu¬
ropa erhielten. Wenn die deutsche Wissenschaft immer die Dinge an sich
von ihrem absoluten Standpunkte aus betrachtet, so hat die französische im¬

scher, unmittelbare und eindringlicher. In Paris, wo jede geistige und
materielle That im Zusammenhange mit den socialen Verhältnissen stehen
muß, hat auch das Christenthum sich herablassen müssen, den gesellschaft¬
lichen Gebräuchen sich anzuschmiegen, und der Abbé Lacordaire hat die
Schwächen dieser Gebräuche so durchschaut, daß sie ihm als Gängelband
dienen, woran er die Menge leitet. Die Zeit des Classizismus ist vorüber
und die Bossuets, Bourdalous würden die Kirchen ebenso leer lassen,
wie Racine und Corneille die Schauspielhäuser. Der Dominikaner Lacor¬
daire weiß dieß sehr wohl; er hat deßhalb der modernen Literatur ihre
Schlagworte und Farbeneffekte abgelernt und man könnte ihn den Apostel
der romantischen Schule in der Kanzelberedsamkeit nennen. Von seinem
Berufe begeistert, und innig von dem Worte überzeugt, welches er lehrt,
scheut dieser Mann keine der raffinirten Lockmittel, welche die heutige Ge¬
sellschaft in Bewegung setzen. Alle Effekte sind ihm willkommen, aller thea¬
tralischer Pomp der Deklamation, der Erscheinung. Er begnügt sich nicht mit
dem einen oder andern Orte, sondern wie ein Schauspieler reist er von Stadt
zu Stadt, um Gastdarstellungen zu geben. Tagelang vorher läßt er sich in
den Journalen ankündigen, und in großen Lettern findet man die Annonce:
Pater Lacordaire werde an diesem oder jenem Tage in dieser oder jener
Kirche, und zwar „in seinem Costüme als Dominikaner“ predigen
u. s. w.; da strömt denn freilich die Crème der pariser Fashion durch die
Kirchthüren, denn Kirche oder Schauspiel! Sie will ja nur sehen und ge¬
sehen werden, sie sucht ja nur ein Mittel um ihre erstarrte Salonsunter¬
haltung anzufrischen, ein Stichwort der Gesellschaft, und ihr ist es gleich,
ob es eine schauspielerische Jüdin oder ein predigender Mönch ist — wenn
nur die Mode sie zum Stichwort nimmt. Aber Lacordaire weiß diese eitle,
leichtsinnige Masse zu fassen und einmal in seiner Nähe, einmal in dem
weiten kirchlichen Raume, den seine Stimme beherrscht, weiß er sie festzu¬
halten und mit demselben Geiste, mit dem er sie angezogen, weiß er sie
auch zu bannen.

Die Anregung über diesen merkwürdigen Priester zu sprechen, giebt uns
eine von ihm verfaßte Denkschrift über die religiösen Orden, von der so
eben die zweite Auflage erscheint. Wir glauben unsere Leser zu verpflich¬
ten, indem wir ihnen einige charakteristische Bruchstücke aus derselben vor¬
führen.

Der Abbé Lacordaire ist ohnstreitig eines jener großen socialen
Talente, an welchen Frankreich von jeher gesegnet war, und mittelst derer
die französischen Ideen, Sitten und Worte ein solches Uebergewicht in Eu¬
ropa erhielten. Wenn die deutsche Wissenschaft immer die Dinge an sich
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[142/0150] scher, unmittelbare und eindringlicher. In Paris, wo jede geistige und materielle That im Zusammenhange mit den socialen Verhältnissen stehen muß, hat auch das Christenthum sich herablassen müssen, den gesellschaft¬ lichen Gebräuchen sich anzuschmiegen, und der Abbé Lacordaire hat die Schwächen dieser Gebräuche so durchschaut, daß sie ihm als Gängelband dienen, woran er die Menge leitet. Die Zeit des Classizismus ist vorüber und die Bossuets, Bourdalous würden die Kirchen ebenso leer lassen, wie Racine und Corneille die Schauspielhäuser. Der Dominikaner Lacor¬ daire weiß dieß sehr wohl; er hat deßhalb der modernen Literatur ihre Schlagworte und Farbeneffekte abgelernt und man könnte ihn den Apostel der romantischen Schule in der Kanzelberedsamkeit nennen. Von seinem Berufe begeistert, und innig von dem Worte überzeugt, welches er lehrt, scheut dieser Mann keine der raffinirten Lockmittel, welche die heutige Ge¬ sellschaft in Bewegung setzen. Alle Effekte sind ihm willkommen, aller thea¬ tralischer Pomp der Deklamation, der Erscheinung. Er begnügt sich nicht mit dem einen oder andern Orte, sondern wie ein Schauspieler reist er von Stadt zu Stadt, um Gastdarstellungen zu geben. Tagelang vorher läßt er sich in den Journalen ankündigen, und in großen Lettern findet man die Annonce: Pater Lacordaire werde an diesem oder jenem Tage in dieser oder jener Kirche, und zwar „in seinem Costüme als Dominikaner“ predigen u. s. w.; da strömt denn freilich die Crème der pariser Fashion durch die Kirchthüren, denn Kirche oder Schauspiel! Sie will ja nur sehen und ge¬ sehen werden, sie sucht ja nur ein Mittel um ihre erstarrte Salonsunter¬ haltung anzufrischen, ein Stichwort der Gesellschaft, und ihr ist es gleich, ob es eine schauspielerische Jüdin oder ein predigender Mönch ist — wenn nur die Mode sie zum Stichwort nimmt. Aber Lacordaire weiß diese eitle, leichtsinnige Masse zu fassen und einmal in seiner Nähe, einmal in dem weiten kirchlichen Raume, den seine Stimme beherrscht, weiß er sie festzu¬ halten und mit demselben Geiste, mit dem er sie angezogen, weiß er sie auch zu bannen. Die Anregung über diesen merkwürdigen Priester zu sprechen, giebt uns eine von ihm verfaßte Denkschrift über die religiösen Orden, von der so eben die zweite Auflage erscheint. Wir glauben unsere Leser zu verpflich¬ ten, indem wir ihnen einige charakteristische Bruchstücke aus derselben vor¬ führen. Der Abbé Lacordaire ist ohnstreitig eines jener großen socialen Talente, an welchen Frankreich von jeher gesegnet war, und mittelst derer die französischen Ideen, Sitten und Worte ein solches Uebergewicht in Eu¬ ropa erhielten. Wenn die deutsche Wissenschaft immer die Dinge an sich von ihrem absoluten Standpunkte aus betrachtet, so hat die französische im¬

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/150>, abgerufen am 26.04.2024.