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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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nach adlig konnten diese Schreiber doch weiter nichts als Lesen und Schreiben.
Da sie nur einen kärglichen Gehalt erhielten, nahmen sie wegen der Aussicht
auf Avancement das Anerbieten mit Freuden an; aber sie verhehlten ihre Be¬
sorgnisse nicht, daß sie nicht im Stande sein würden, das erforderliche Eramen
zu bestehen. Der Oberst beruhigte sie jedoch und sagte, erwerbe sie selbst
prüfen. Dies geschah auf folgende Weise. Oberst: "Was ist Geographie?"
Antwort: "Das weiß ich nicht, ich habe nie davon gehört." Oberst: "Unsinn,
du mußt es wissen! Auf welchem User welchen großen Flusses liegt die Stadt
E. (die Stadt, in der sie sich befanden)?" Antwort: "Auf dem rechten Ufer
des Flusses D." Oberst: "Na, ich wußte doch, daß du in der Geographie fest
wärest, das genügt." Ein ander Mal war der Gegenstand der Prüfung die
Mathematik. Oberst: "Was ist Mathematik?" Antwort: "Habe ich in mei¬
nem Leben nicht gesehen." Oberst: "Addire zwei und zwei." Antwort: "Macht
vier." Oberst: "So, das genügt, du hast den Eramen bestanden." Natürlich
war ich bei diesen Prüfungen nicht gegenwärtig, aber mein Bericht darüber
stammt aus der zuverlässigsten Quelle.

Die Offiziere der Miliz sind meistens pensionirte Offiziere der stehenden
Armee; aber wenn in einem Gouvernement diese Classe nicht zahlreich genug
vorhanden ist, so wählt der Adel die Fehlenden aus seiner Mitte. Im Allge¬
meinen herrscht große Abneigung gegen den Milizdienst, wie gegen den Kriegs¬
dienst überhaupt, denn die Mehrheit des russischen Volkes ist trotz seiner viel¬
gerühmten Tapferkeit nichts weniger als kriegslustig.

Der Mangel an guten Aerzten wird gegenwärtig in der Armee sehr stark
gefühlt. Von allen Universitäten werden bloße Studenten zum Eintritt ge¬
nöthigt, ehe sie ihren medicinischen Cursus vollendet haben, der eigentlich fünf
Jahre dauert, jetzt aber aus 3V2 abgekürzt ist. Neuerdings sind viele Aerzte
aus Amerika und Preußen eingetroffen, die sofort nach dem Kriegsschauplatze
abgeschickt werden. In Simpheropol hatten fast alle englischen Verwundeten
amerikanische Aerzte.

Wie schwer es in Nußland hält, Armeen zu transportiren, läßt sich schon
an der Reise sehen, welche die barmherzigen Schwestern voriges Jahr von
Petersburg nach der Krim machten. Sie verließen die Hauptstadt gegen Mitte
November und reisten ohne besondere Beschwerden, solange die Chaussee
dauerte; aber von Kursk/ wo die Chaussee aufhört, bis Charkow hatten sie
schon viel auszustehen, da sie in großen schweren Diligencen, gleich den fran¬
zösischen, fuhren. Aber die ganzen Freuden einer russischen Herbstreise.fingen
hinter letzterer Stadt an. Die Schwestern verließen Charkow mit 13 Pferden
vor jedem Wagen und erreichten glücklich die erste in einem Thale gelegene
Station ungefähr 14 Werst von der Stadt; aber als sie den Berg hinaufzu¬
fahren versuchten, blieben die Räder im Schlamm stecken und die Is Pferde


nach adlig konnten diese Schreiber doch weiter nichts als Lesen und Schreiben.
Da sie nur einen kärglichen Gehalt erhielten, nahmen sie wegen der Aussicht
auf Avancement das Anerbieten mit Freuden an; aber sie verhehlten ihre Be¬
sorgnisse nicht, daß sie nicht im Stande sein würden, das erforderliche Eramen
zu bestehen. Der Oberst beruhigte sie jedoch und sagte, erwerbe sie selbst
prüfen. Dies geschah auf folgende Weise. Oberst: „Was ist Geographie?"
Antwort: „Das weiß ich nicht, ich habe nie davon gehört." Oberst: „Unsinn,
du mußt es wissen! Auf welchem User welchen großen Flusses liegt die Stadt
E. (die Stadt, in der sie sich befanden)?" Antwort: „Auf dem rechten Ufer
des Flusses D." Oberst: „Na, ich wußte doch, daß du in der Geographie fest
wärest, das genügt." Ein ander Mal war der Gegenstand der Prüfung die
Mathematik. Oberst: „Was ist Mathematik?" Antwort: „Habe ich in mei¬
nem Leben nicht gesehen." Oberst: „Addire zwei und zwei." Antwort: „Macht
vier." Oberst: „So, das genügt, du hast den Eramen bestanden." Natürlich
war ich bei diesen Prüfungen nicht gegenwärtig, aber mein Bericht darüber
stammt aus der zuverlässigsten Quelle.

Die Offiziere der Miliz sind meistens pensionirte Offiziere der stehenden
Armee; aber wenn in einem Gouvernement diese Classe nicht zahlreich genug
vorhanden ist, so wählt der Adel die Fehlenden aus seiner Mitte. Im Allge¬
meinen herrscht große Abneigung gegen den Milizdienst, wie gegen den Kriegs¬
dienst überhaupt, denn die Mehrheit des russischen Volkes ist trotz seiner viel¬
gerühmten Tapferkeit nichts weniger als kriegslustig.

Der Mangel an guten Aerzten wird gegenwärtig in der Armee sehr stark
gefühlt. Von allen Universitäten werden bloße Studenten zum Eintritt ge¬
nöthigt, ehe sie ihren medicinischen Cursus vollendet haben, der eigentlich fünf
Jahre dauert, jetzt aber aus 3V2 abgekürzt ist. Neuerdings sind viele Aerzte
aus Amerika und Preußen eingetroffen, die sofort nach dem Kriegsschauplatze
abgeschickt werden. In Simpheropol hatten fast alle englischen Verwundeten
amerikanische Aerzte.

Wie schwer es in Nußland hält, Armeen zu transportiren, läßt sich schon
an der Reise sehen, welche die barmherzigen Schwestern voriges Jahr von
Petersburg nach der Krim machten. Sie verließen die Hauptstadt gegen Mitte
November und reisten ohne besondere Beschwerden, solange die Chaussee
dauerte; aber von Kursk/ wo die Chaussee aufhört, bis Charkow hatten sie
schon viel auszustehen, da sie in großen schweren Diligencen, gleich den fran¬
zösischen, fuhren. Aber die ganzen Freuden einer russischen Herbstreise.fingen
hinter letzterer Stadt an. Die Schwestern verließen Charkow mit 13 Pferden
vor jedem Wagen und erreichten glücklich die erste in einem Thale gelegene
Station ungefähr 14 Werst von der Stadt; aber als sie den Berg hinaufzu¬
fahren versuchten, blieben die Räder im Schlamm stecken und die Is Pferde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/298>, abgerufen am 01.11.2024.