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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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betraut und ist Mitglied der Justizcommission. Auf dem Landtag 1869/70 hat
er sich durch seine glänzende Berichterstattung über das Stiftungsgesetz aus¬
gezeichnet. Er war von Anfang an ein zuverlässiges Mitglied der national¬
liberalen Fraction, als kenntnißreicher Jurist und tüchtiger Anwalt, wie nicht
minder als ehrenwerther Character und fleißiger Arbeiter stets geschützt.
Ftnanzpräsident Ellstätter ist nicht Neuling, ebenso gehört Nüßlin dem
Staatsministerium schon längere Jahre als Rath an. Das Handschreiben
des Großherzogs an den neuen Staatsminister, in welchem er diesen mit der
Neubildung des Kabinets beauftragte, enthält die Willenserklärung des
Fürsten, daß die Richtung der Regierung, sowohl in Betreff der inneren
Politik, als in Bezug auf die nationalen Entwicklungsaufgaben, die bisherige
bleiben werde. Dieses Wort ist aufrichtig gesprochen, und wir sind fern
davon, es deuteln zu wollen. Aber die oben dargelegten Momente eines
gegen früher vollzogenen und sich vollziehenden Stimmungswechsels in den
höchsten Kreisen sind damit nicht aus der Welt geschafft. Die nationale und
freisinnige Politik kann bleiben und wird für die nächste Zukunft bleiben,
aber an die Stelle der freudigen Hingebung und der energischen Arbeit, in
der bisher die Ziele solcher Politik verfolgt wurden, kann und wird zögernde
Zurückhaltung, schonende Friedensliebe treten. Wir wollen, ohne diesen Punkt
von vornherein zum Prüfstein nationaler Gesinnung zu erklären, nur auf
das Eine hinweisen, daß die abgetretenen Minister Jolly und v. Freydorf Ver¬
theidiger des Reichseisenbahnsystems waren, Turban und Ellstätter, die auf
ihren Posten gebliebenen Räthe der Krone, Gegner desselben. Sodann haben
wir bereits oben bemerkt, daß der neu ernannte Präsident des neuen Ministe¬
riums im Verlauf des letzten Landtags aus der national-liberalen Fraction
schied, weil er mit deren energischem Vorgehen in Sachen der Einführung der
confessionell gemischten Volksschule sich nicht einverstanden zeigte. Die gegne¬
rischen Blätter führen eine zuversichtliche Sprache. Der "Bad. Beob.", das
Organ unserer Ultramontanen, meint, "daß der Kulturkampf nun nicht mehr
wie bisher als eigentliche Lebensaufgabe des badischen Staates betrachtet
werde." Die evangelischen Orthodoxen, auch Deutsch-Conservative benannt,
characterisiren das neue Ministerium als "liberal, aber gemäßigt" und
schließen aus der Zusammensetzung desselben, "daß der feindliche Geist des
Liberalismus gegen die christliche Kirche, wie er im letzten Jahrzehnt bei uns
die Oberhand gewonnen hatte, nicht mehr mit der seitherigen Härte entscheidend
in unsere Verhältnisse einzugreifen im Stande sein wird." Eine der Regie¬
rung nahestehende Zeitung aber kündigt bereits eine mehr "wirthschaftliche"
Aera an. Unsere Ansicht: wir haben ein Geschäftsministerium. Aber im
Hintergrund will sich bereits ein anderes zeigen. Der Schatten war voraus¬
geworfen geraume Zeit, ehe die Kreuzzeitung den Namen ausplauderte.


Grenjboten IV. 187K. 20

betraut und ist Mitglied der Justizcommission. Auf dem Landtag 1869/70 hat
er sich durch seine glänzende Berichterstattung über das Stiftungsgesetz aus¬
gezeichnet. Er war von Anfang an ein zuverlässiges Mitglied der national¬
liberalen Fraction, als kenntnißreicher Jurist und tüchtiger Anwalt, wie nicht
minder als ehrenwerther Character und fleißiger Arbeiter stets geschützt.
Ftnanzpräsident Ellstätter ist nicht Neuling, ebenso gehört Nüßlin dem
Staatsministerium schon längere Jahre als Rath an. Das Handschreiben
des Großherzogs an den neuen Staatsminister, in welchem er diesen mit der
Neubildung des Kabinets beauftragte, enthält die Willenserklärung des
Fürsten, daß die Richtung der Regierung, sowohl in Betreff der inneren
Politik, als in Bezug auf die nationalen Entwicklungsaufgaben, die bisherige
bleiben werde. Dieses Wort ist aufrichtig gesprochen, und wir sind fern
davon, es deuteln zu wollen. Aber die oben dargelegten Momente eines
gegen früher vollzogenen und sich vollziehenden Stimmungswechsels in den
höchsten Kreisen sind damit nicht aus der Welt geschafft. Die nationale und
freisinnige Politik kann bleiben und wird für die nächste Zukunft bleiben,
aber an die Stelle der freudigen Hingebung und der energischen Arbeit, in
der bisher die Ziele solcher Politik verfolgt wurden, kann und wird zögernde
Zurückhaltung, schonende Friedensliebe treten. Wir wollen, ohne diesen Punkt
von vornherein zum Prüfstein nationaler Gesinnung zu erklären, nur auf
das Eine hinweisen, daß die abgetretenen Minister Jolly und v. Freydorf Ver¬
theidiger des Reichseisenbahnsystems waren, Turban und Ellstätter, die auf
ihren Posten gebliebenen Räthe der Krone, Gegner desselben. Sodann haben
wir bereits oben bemerkt, daß der neu ernannte Präsident des neuen Ministe¬
riums im Verlauf des letzten Landtags aus der national-liberalen Fraction
schied, weil er mit deren energischem Vorgehen in Sachen der Einführung der
confessionell gemischten Volksschule sich nicht einverstanden zeigte. Die gegne¬
rischen Blätter führen eine zuversichtliche Sprache. Der „Bad. Beob.", das
Organ unserer Ultramontanen, meint, „daß der Kulturkampf nun nicht mehr
wie bisher als eigentliche Lebensaufgabe des badischen Staates betrachtet
werde." Die evangelischen Orthodoxen, auch Deutsch-Conservative benannt,
characterisiren das neue Ministerium als „liberal, aber gemäßigt" und
schließen aus der Zusammensetzung desselben, „daß der feindliche Geist des
Liberalismus gegen die christliche Kirche, wie er im letzten Jahrzehnt bei uns
die Oberhand gewonnen hatte, nicht mehr mit der seitherigen Härte entscheidend
in unsere Verhältnisse einzugreifen im Stande sein wird." Eine der Regie¬
rung nahestehende Zeitung aber kündigt bereits eine mehr „wirthschaftliche"
Aera an. Unsere Ansicht: wir haben ein Geschäftsministerium. Aber im
Hintergrund will sich bereits ein anderes zeigen. Der Schatten war voraus¬
geworfen geraume Zeit, ehe die Kreuzzeitung den Namen ausplauderte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/157>, abgerufen am 01.11.2024.