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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamentarismus in England.

sich für jede einzelne Wahl auf mindestens hunderttausend Mark beläuft, nicht
aufzutreiben vermocht.

Die Geschichte des Wahlrechts bis 1865 ist, wie Bucher sie nach dem
vorhergehenden kurz zusammenfaßt, folgende: "Wirthschaftliche Gruppen schicken
Beauftragte, von allen selbständigen gewählt, mit Information und Anweisung
zu einem Congresse, der über die alle Gruppen angehenden Fragen beräth.
Veränderungen des Wirthschaftsbetriebes in den Grafschaften, der gelverblichen
Verhältnisse in den Städten, Verknöcherung des Rechts überall verwandeln das
Recht und die Pflicht zu wählen in ein Privilegium einzelner Loealitäten und
Klassen. Gleichzeitig entwickelt sich die Vorstellung, daß ein Parlamentsmitglied
nicht Beauftragter einer einzelnen Gruppe, sondern Vertreter des ganzen Volkes,
und daß nicht das Recht des Landes, sondern das Parlament der Souverän
sei. Das Parlament und die Klassen, ans denen es erwächst, werden zu einem
Staat im Staate. Die Philosophie, das Gewicht der industriellen Klassen, die
Noth der Arbeitenden, die Sehnsucht der Whigs, wieder einmal an die Gewalt
zu kommen und die Julirevolution*) -- alle diese Ursachen vereinigt bringen
es zur Reformacte. Diese führt einen ganz willkürlichen Census ein, der dem
siebenten großjährigen Manne das Wahlrecht giebt. Sie nimmt den gar zu
kleinen Ortschaften die besondere Vertretung und verleiht sie den gar zu großen,
nimmt das Prineip einer Vertretung der Kopfzahl ein,- führt es aber nicht
durch. Die beiden Grundsätze, Vertretung der Zahl und Abmessung der staats¬
bürgerliche" Tüchtigkeit nach der Einnahme oder nach dem Aufwande, sind
nicht englisch, sondern französisch. Nach zwanzig Jahren ist das Parlament
darüber einig, daß es auf einem Sumpfe von Corruption gewachsen ist, und
thut, als wolle sichs am Zopfe herausziehen. Es ereifert sich und gesetzgebert
gegen die Bestvchneu, will aber den Bestecher: nicht die eidesstattliche Ver¬
pflichtung auferlegen, nicht zu bestechen. Alle Welt meint, es müsse eine neue
Reformacte kommen, aber niemand kümmert sich einen Strohhalm darum. Die
Fluth von Rcformprojecten hat sich gerade in dem Augenblicke verlaufen, da
die Auswahl geschehen sollte."



") "Auf den Pariser Barrikaden wurde die Reformbill gewonnen," erklärte Lord
Brougham, und Beacvnsfield sagt im "Endumion" (I. S. 39), der Herzog von Wellington,
der Führer des Toryeabinets, würde bei der damaligen Wnhlcampagne gesiegt haben, wenn
die französische Revolution nicht dazwischen gekommen wa're. "Die Whigs ersahen ihre
Gelegenheit und ergriffen sie. Der triumphirende Aufruhr in Paris wurde zur Würde der
-drei glorreichen Tage' erhoben, und die drei glorreichen Tage wurden allgemein als der
Sieg bürgerlicher und religiöser Freiheit anerkannt. Die Namen Polignac und Wellington
wurden geschickt mit einander verbunden, und die Phrase von einer Pnrlammtsrcsorm
begann in Umlauf zu kommen."
Der Parlamentarismus in England.

sich für jede einzelne Wahl auf mindestens hunderttausend Mark beläuft, nicht
aufzutreiben vermocht.

Die Geschichte des Wahlrechts bis 1865 ist, wie Bucher sie nach dem
vorhergehenden kurz zusammenfaßt, folgende: „Wirthschaftliche Gruppen schicken
Beauftragte, von allen selbständigen gewählt, mit Information und Anweisung
zu einem Congresse, der über die alle Gruppen angehenden Fragen beräth.
Veränderungen des Wirthschaftsbetriebes in den Grafschaften, der gelverblichen
Verhältnisse in den Städten, Verknöcherung des Rechts überall verwandeln das
Recht und die Pflicht zu wählen in ein Privilegium einzelner Loealitäten und
Klassen. Gleichzeitig entwickelt sich die Vorstellung, daß ein Parlamentsmitglied
nicht Beauftragter einer einzelnen Gruppe, sondern Vertreter des ganzen Volkes,
und daß nicht das Recht des Landes, sondern das Parlament der Souverän
sei. Das Parlament und die Klassen, ans denen es erwächst, werden zu einem
Staat im Staate. Die Philosophie, das Gewicht der industriellen Klassen, die
Noth der Arbeitenden, die Sehnsucht der Whigs, wieder einmal an die Gewalt
zu kommen und die Julirevolution*) — alle diese Ursachen vereinigt bringen
es zur Reformacte. Diese führt einen ganz willkürlichen Census ein, der dem
siebenten großjährigen Manne das Wahlrecht giebt. Sie nimmt den gar zu
kleinen Ortschaften die besondere Vertretung und verleiht sie den gar zu großen,
nimmt das Prineip einer Vertretung der Kopfzahl ein,- führt es aber nicht
durch. Die beiden Grundsätze, Vertretung der Zahl und Abmessung der staats¬
bürgerliche» Tüchtigkeit nach der Einnahme oder nach dem Aufwande, sind
nicht englisch, sondern französisch. Nach zwanzig Jahren ist das Parlament
darüber einig, daß es auf einem Sumpfe von Corruption gewachsen ist, und
thut, als wolle sichs am Zopfe herausziehen. Es ereifert sich und gesetzgebert
gegen die Bestvchneu, will aber den Bestecher: nicht die eidesstattliche Ver¬
pflichtung auferlegen, nicht zu bestechen. Alle Welt meint, es müsse eine neue
Reformacte kommen, aber niemand kümmert sich einen Strohhalm darum. Die
Fluth von Rcformprojecten hat sich gerade in dem Augenblicke verlaufen, da
die Auswahl geschehen sollte."



") „Auf den Pariser Barrikaden wurde die Reformbill gewonnen," erklärte Lord
Brougham, und Beacvnsfield sagt im „Endumion" (I. S. 39), der Herzog von Wellington,
der Führer des Toryeabinets, würde bei der damaligen Wnhlcampagne gesiegt haben, wenn
die französische Revolution nicht dazwischen gekommen wa're. „Die Whigs ersahen ihre
Gelegenheit und ergriffen sie. Der triumphirende Aufruhr in Paris wurde zur Würde der
-drei glorreichen Tage' erhoben, und die drei glorreichen Tage wurden allgemein als der
Sieg bürgerlicher und religiöser Freiheit anerkannt. Die Namen Polignac und Wellington
wurden geschickt mit einander verbunden, und die Phrase von einer Pnrlammtsrcsorm
begann in Umlauf zu kommen."
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[0207] Der Parlamentarismus in England. sich für jede einzelne Wahl auf mindestens hunderttausend Mark beläuft, nicht aufzutreiben vermocht. Die Geschichte des Wahlrechts bis 1865 ist, wie Bucher sie nach dem vorhergehenden kurz zusammenfaßt, folgende: „Wirthschaftliche Gruppen schicken Beauftragte, von allen selbständigen gewählt, mit Information und Anweisung zu einem Congresse, der über die alle Gruppen angehenden Fragen beräth. Veränderungen des Wirthschaftsbetriebes in den Grafschaften, der gelverblichen Verhältnisse in den Städten, Verknöcherung des Rechts überall verwandeln das Recht und die Pflicht zu wählen in ein Privilegium einzelner Loealitäten und Klassen. Gleichzeitig entwickelt sich die Vorstellung, daß ein Parlamentsmitglied nicht Beauftragter einer einzelnen Gruppe, sondern Vertreter des ganzen Volkes, und daß nicht das Recht des Landes, sondern das Parlament der Souverän sei. Das Parlament und die Klassen, ans denen es erwächst, werden zu einem Staat im Staate. Die Philosophie, das Gewicht der industriellen Klassen, die Noth der Arbeitenden, die Sehnsucht der Whigs, wieder einmal an die Gewalt zu kommen und die Julirevolution*) — alle diese Ursachen vereinigt bringen es zur Reformacte. Diese führt einen ganz willkürlichen Census ein, der dem siebenten großjährigen Manne das Wahlrecht giebt. Sie nimmt den gar zu kleinen Ortschaften die besondere Vertretung und verleiht sie den gar zu großen, nimmt das Prineip einer Vertretung der Kopfzahl ein,- führt es aber nicht durch. Die beiden Grundsätze, Vertretung der Zahl und Abmessung der staats¬ bürgerliche» Tüchtigkeit nach der Einnahme oder nach dem Aufwande, sind nicht englisch, sondern französisch. Nach zwanzig Jahren ist das Parlament darüber einig, daß es auf einem Sumpfe von Corruption gewachsen ist, und thut, als wolle sichs am Zopfe herausziehen. Es ereifert sich und gesetzgebert gegen die Bestvchneu, will aber den Bestecher: nicht die eidesstattliche Ver¬ pflichtung auferlegen, nicht zu bestechen. Alle Welt meint, es müsse eine neue Reformacte kommen, aber niemand kümmert sich einen Strohhalm darum. Die Fluth von Rcformprojecten hat sich gerade in dem Augenblicke verlaufen, da die Auswahl geschehen sollte." ") „Auf den Pariser Barrikaden wurde die Reformbill gewonnen," erklärte Lord Brougham, und Beacvnsfield sagt im „Endumion" (I. S. 39), der Herzog von Wellington, der Führer des Toryeabinets, würde bei der damaligen Wnhlcampagne gesiegt haben, wenn die französische Revolution nicht dazwischen gekommen wa're. „Die Whigs ersahen ihre Gelegenheit und ergriffen sie. Der triumphirende Aufruhr in Paris wurde zur Würde der -drei glorreichen Tage' erhoben, und die drei glorreichen Tage wurden allgemein als der Sieg bürgerlicher und religiöser Freiheit anerkannt. Die Namen Polignac und Wellington wurden geschickt mit einander verbunden, und die Phrase von einer Pnrlammtsrcsorm begann in Umlauf zu kommen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/207>, abgerufen am 01.11.2024.