Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.Gin deutsches Seminar für neuere Philologie in London. Tausenden in Glück und Unglück abspielt. Hier an seinen Wurzeln murmelt der Zu ihm zieht denn auch alljährlich auf den Rat ihrer Universitätslehrer Gin deutsches Seminar für neuere Philologie in London. Tausenden in Glück und Unglück abspielt. Hier an seinen Wurzeln murmelt der Zu ihm zieht denn auch alljährlich auf den Rat ihrer Universitätslehrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0582" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/199936"/> <fw type="header" place="top"> Gin deutsches Seminar für neuere Philologie in London.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2681" prev="#ID_2680"> Tausenden in Glück und Unglück abspielt. Hier an seinen Wurzeln murmelt der<lb/> Quell der Sprache frisch und klar, es ist der einzige Born, aus dem ihr wahrer<lb/> Laut natürlich hervorquillt und aller Bücherweisheit spottet.</p><lb/> <p xml:id="ID_2682" next="#ID_2683"> Zu ihm zieht denn auch alljährlich auf den Rat ihrer Universitätslehrer<lb/> oder aus eigner Würdigung seines Einflusses auf ihre Studien eine große An¬<lb/> zahl Studirender der neuern Philologie und vertauscht das gemütvolle Lebe»<lb/> auf der heimischen Scholle mit der dunkelstarrenden Zukunft in der Fremde,<lb/> vor allem in London. Von all diesen Lernbegieriger haben aber nur die<lb/> wenigsten ein klares Bild ihrer Zukunft vor sich, insofern sie über genügende<lb/> Mittel verfügen, um, auf sie gestützt, unabhängig von der fremden, sie um¬<lb/> gebenden Welt ihren Studien nachgehen zu können. Die andern — die große<lb/> Mehrzahl — landen um der englischen Küste mit einem Zehrpfennig, der kaum<lb/> für wenige Wochen ausreicht. Doch ihr Herz ist voll Hoffen, sie rechnen ans<lb/> eine englische Les>erstelle. So vergeht ihnen Tag für Tag, die Wochen eilen<lb/> dahin und plötzlich klagt die leere Tasche, der ungestillte Hunger über den leicht¬<lb/> sinnigen Schritt, die Zukunft kühn versucht und sich ohne Rückhalt in den<lb/> Strudel der alles zersetzenden Weltstadt gestürzt zu haben. Was bleibt den<lb/> Armen zuletzt übrig, als die erste beste Stellung anzunehmen, die sich ihnen<lb/> bietet? Sie schätzen sich noch glücklich, wenn es eine Lehrerstelle ist, die ihnen<lb/> gegen bloße Kost und Wohnung zugefallen ist! Daß die Köchin an derselben<lb/> Anstalt ein viel höher geachtetes Wesen ist als sie, kümmert sie gar wenig; sie<lb/> sind dem Verhungern entronnen und wieder thätig ihrem Stande eingereiht,<lb/> der ihnen Achtung verschaffen wird. Schöne Illusionen! Der gewissenlose<lb/> Vorsteher der Schule ist ein genauer Rechner, er kennt die Welt und kennt die<lb/> Mittellosigkeit seines Untergebenen. Er weiß, daß letzterer auf ihn angewiesen<lb/> und gezwungen ist, seine Stelle festzuhalten, wenn er sich nicht aufs neue dem<lb/> zweifelhaften Zufall in die Arme werfen will. So mutet er ihm auch das<lb/> Menschenmögliche in seinem Fache zu, überhäuft ihn mit Arbeiten aller Art<lb/> und drückt ihn, der einst für Erziehungsideale geschwärmt hat, zu einem Helfers¬<lb/> helfer einer feilen Industrie herab. Was Wunder, daß er so in wenigen Jahren<lb/> geistig abstumpft und ohne den Verkehr gleich gesinnter Männer in einen Zu¬<lb/> stand handwerksmäßiger Gleichgültigkeit versinkt, dessen düstere Wolkenschatten<lb/> bald den letzten Nest des lichten Morgenrotes aus seiner Seele verbannen, das<lb/> dereinst unter dem Schutze deutscher Wissenschaft eingezogen war. Er ist zum<lb/> Handlanger herabgesunken, der maschinenartig seinem Meister die Bausteine<lb/> überreicht, für deren Verarbeitung er keine Neigung mehr bewahrt hat. Und<lb/> doch kann er im Vergleich mit manchen andern seiner früheren Kommilitonen<lb/> noch von Glück sagen, daß er im Lehrfach geblieben ist! Durch Krankheit und<lb/> andre unglückliche Umstände, oft herbeigeführt durch ihre eigne Mutlosigkeit und<lb/> Gleichgiltigkeit, sind sie geistig und körperlich so verkommen, daß den Fach¬<lb/> genossen vor Entrüstung das Herz lauter schlägt. Sie sind Entbehrungen und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0582]
Gin deutsches Seminar für neuere Philologie in London.
Tausenden in Glück und Unglück abspielt. Hier an seinen Wurzeln murmelt der
Quell der Sprache frisch und klar, es ist der einzige Born, aus dem ihr wahrer
Laut natürlich hervorquillt und aller Bücherweisheit spottet.
Zu ihm zieht denn auch alljährlich auf den Rat ihrer Universitätslehrer
oder aus eigner Würdigung seines Einflusses auf ihre Studien eine große An¬
zahl Studirender der neuern Philologie und vertauscht das gemütvolle Lebe»
auf der heimischen Scholle mit der dunkelstarrenden Zukunft in der Fremde,
vor allem in London. Von all diesen Lernbegieriger haben aber nur die
wenigsten ein klares Bild ihrer Zukunft vor sich, insofern sie über genügende
Mittel verfügen, um, auf sie gestützt, unabhängig von der fremden, sie um¬
gebenden Welt ihren Studien nachgehen zu können. Die andern — die große
Mehrzahl — landen um der englischen Küste mit einem Zehrpfennig, der kaum
für wenige Wochen ausreicht. Doch ihr Herz ist voll Hoffen, sie rechnen ans
eine englische Les>erstelle. So vergeht ihnen Tag für Tag, die Wochen eilen
dahin und plötzlich klagt die leere Tasche, der ungestillte Hunger über den leicht¬
sinnigen Schritt, die Zukunft kühn versucht und sich ohne Rückhalt in den
Strudel der alles zersetzenden Weltstadt gestürzt zu haben. Was bleibt den
Armen zuletzt übrig, als die erste beste Stellung anzunehmen, die sich ihnen
bietet? Sie schätzen sich noch glücklich, wenn es eine Lehrerstelle ist, die ihnen
gegen bloße Kost und Wohnung zugefallen ist! Daß die Köchin an derselben
Anstalt ein viel höher geachtetes Wesen ist als sie, kümmert sie gar wenig; sie
sind dem Verhungern entronnen und wieder thätig ihrem Stande eingereiht,
der ihnen Achtung verschaffen wird. Schöne Illusionen! Der gewissenlose
Vorsteher der Schule ist ein genauer Rechner, er kennt die Welt und kennt die
Mittellosigkeit seines Untergebenen. Er weiß, daß letzterer auf ihn angewiesen
und gezwungen ist, seine Stelle festzuhalten, wenn er sich nicht aufs neue dem
zweifelhaften Zufall in die Arme werfen will. So mutet er ihm auch das
Menschenmögliche in seinem Fache zu, überhäuft ihn mit Arbeiten aller Art
und drückt ihn, der einst für Erziehungsideale geschwärmt hat, zu einem Helfers¬
helfer einer feilen Industrie herab. Was Wunder, daß er so in wenigen Jahren
geistig abstumpft und ohne den Verkehr gleich gesinnter Männer in einen Zu¬
stand handwerksmäßiger Gleichgültigkeit versinkt, dessen düstere Wolkenschatten
bald den letzten Nest des lichten Morgenrotes aus seiner Seele verbannen, das
dereinst unter dem Schutze deutscher Wissenschaft eingezogen war. Er ist zum
Handlanger herabgesunken, der maschinenartig seinem Meister die Bausteine
überreicht, für deren Verarbeitung er keine Neigung mehr bewahrt hat. Und
doch kann er im Vergleich mit manchen andern seiner früheren Kommilitonen
noch von Glück sagen, daß er im Lehrfach geblieben ist! Durch Krankheit und
andre unglückliche Umstände, oft herbeigeführt durch ihre eigne Mutlosigkeit und
Gleichgiltigkeit, sind sie geistig und körperlich so verkommen, daß den Fach¬
genossen vor Entrüstung das Herz lauter schlägt. Sie sind Entbehrungen und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |