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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken.

Briefwechsel erhalten gerade durch ihren Zusammenhang besondern Wert. Auch
da, wo dieser dadurch, daß wir nur die Briefe von einer Seite, nicht auch die
Antworten erhalten, eine Störung erleidet, wirkt die fortlaufende Verbindung
anziehend. Dagegen büßen sie gleichsam ihren vollen Lebensatem ein, wenn sie
immerfort durch andre, meist ohne jede innere und äußere Verbindung mit
ihnen stehende unterbrochen werden. Freilich ist der Schreiber immer derselbe,
aber in wie verschiednen, sich meist einander ausschließenden Verhältnissen tritt
er uns entgegen! Nun denke man sich massenhafte an dieselbe Person gerichtete
Briefe, wie die an Frau von Stein, an den Herzog, an Schiller, Zelter, Voigt,
durch ganz einzeln stehende, wie hineingeschneite unterbrochen! Wie sehr verlieren
sie, wenn man auch meist die Herzenssprache einer tief und rein empfindenden
Seele durchhört, an ihrer wirklichen Bedeutung! Und trotzdem sollen die Käufer
der Briefe, welche die vollständigen umfangreichen Briefsammlungen mit den
nötigen Erläuterungen besitzen, diese noch einmal kaufen, damit man neben ein¬
ander alle Briefe lese, wie sie Goethe geschrieben hat. Ich will gar nicht der
Schwierigkeit gedenken, welche dadurch entsteht, daß bei manchen Briefen, wie z. B.
häufig bei den an Frau von Stein gerichteten, die Datirung mehr oder weniger
zweifelhaft ist und man demnach doch nicht die Folge streng inne halten oder
verbürgen kann, ich will nicht hervorheben, daß wir nur einen Teil der wirklich
von Goethe geschriebenen Briefe besitzen, und so der Vorteil verloren geht, seine
vielseitigen Beziehungen zu derselben Zeit ins volle Licht zu setzen. Die großen
Briefsammlungen müssen als ein Ganzes gegeben werden, womit Goethe selbst
den Anfang gemacht hat (auch die Briefe an Kestner und Lavater); einzelne
Briefe an verschiedne mag man immer in der Zeitfolge zusammenstellen.

Die uns vorliegenden beiden Bände der Briefe von 1764 bis 1775 hat
W. von Biedermann herausgegeben, nur die an die Schwester, Behrisch, Oeser
und dessen Tochter Friederike, sowie die Straßburger in einer Kladde erhaltenen
hat Schmidt geliefert. Bei allen wurde die Urschrift verglichen, wo sie erreich¬
bar war. In den an Cornelie und Behrisch geschriebenen sind manche Fehler
des Goethe-Jahrbuchs, leider nicht alle, verbessert worden. Neu sind nur drei
neuerdings angekaufte Geschäftsbriefe an den Dr. M-is steche in Göttingen
und ein sehr merkwürdiger an Fritz Stolberg vom 26. Oktober 1775, dessen
Entwurf sich unter ganz andern Papieren verloren fand. Leider mußten wir zu
unserm Schrecken vernehmen, daß die beiden bedeutenden Straßburger Briefe,
in denen Goethe im Juli und Dezember 1770 sich vertraulich an Horn erging,
im Archiv nicht mehr zu finden waren. Ihr Verschwinden wird vielleicht ein
Rätsel bleiben, während sich wohl noch ermitteln lassen dürfte, wie die beiden
aus einem Packet des Archivs genommenen Szenen Valentins und der Wal¬
purgisnacht nach Berlin gekommen sind, wo Friedrich Wilhelm IV. sie am 31. Juli
1841 der königlichen Bibliothek schenkte.




Die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken.

Briefwechsel erhalten gerade durch ihren Zusammenhang besondern Wert. Auch
da, wo dieser dadurch, daß wir nur die Briefe von einer Seite, nicht auch die
Antworten erhalten, eine Störung erleidet, wirkt die fortlaufende Verbindung
anziehend. Dagegen büßen sie gleichsam ihren vollen Lebensatem ein, wenn sie
immerfort durch andre, meist ohne jede innere und äußere Verbindung mit
ihnen stehende unterbrochen werden. Freilich ist der Schreiber immer derselbe,
aber in wie verschiednen, sich meist einander ausschließenden Verhältnissen tritt
er uns entgegen! Nun denke man sich massenhafte an dieselbe Person gerichtete
Briefe, wie die an Frau von Stein, an den Herzog, an Schiller, Zelter, Voigt,
durch ganz einzeln stehende, wie hineingeschneite unterbrochen! Wie sehr verlieren
sie, wenn man auch meist die Herzenssprache einer tief und rein empfindenden
Seele durchhört, an ihrer wirklichen Bedeutung! Und trotzdem sollen die Käufer
der Briefe, welche die vollständigen umfangreichen Briefsammlungen mit den
nötigen Erläuterungen besitzen, diese noch einmal kaufen, damit man neben ein¬
ander alle Briefe lese, wie sie Goethe geschrieben hat. Ich will gar nicht der
Schwierigkeit gedenken, welche dadurch entsteht, daß bei manchen Briefen, wie z. B.
häufig bei den an Frau von Stein gerichteten, die Datirung mehr oder weniger
zweifelhaft ist und man demnach doch nicht die Folge streng inne halten oder
verbürgen kann, ich will nicht hervorheben, daß wir nur einen Teil der wirklich
von Goethe geschriebenen Briefe besitzen, und so der Vorteil verloren geht, seine
vielseitigen Beziehungen zu derselben Zeit ins volle Licht zu setzen. Die großen
Briefsammlungen müssen als ein Ganzes gegeben werden, womit Goethe selbst
den Anfang gemacht hat (auch die Briefe an Kestner und Lavater); einzelne
Briefe an verschiedne mag man immer in der Zeitfolge zusammenstellen.

Die uns vorliegenden beiden Bände der Briefe von 1764 bis 1775 hat
W. von Biedermann herausgegeben, nur die an die Schwester, Behrisch, Oeser
und dessen Tochter Friederike, sowie die Straßburger in einer Kladde erhaltenen
hat Schmidt geliefert. Bei allen wurde die Urschrift verglichen, wo sie erreich¬
bar war. In den an Cornelie und Behrisch geschriebenen sind manche Fehler
des Goethe-Jahrbuchs, leider nicht alle, verbessert worden. Neu sind nur drei
neuerdings angekaufte Geschäftsbriefe an den Dr. M-is steche in Göttingen
und ein sehr merkwürdiger an Fritz Stolberg vom 26. Oktober 1775, dessen
Entwurf sich unter ganz andern Papieren verloren fand. Leider mußten wir zu
unserm Schrecken vernehmen, daß die beiden bedeutenden Straßburger Briefe,
in denen Goethe im Juli und Dezember 1770 sich vertraulich an Horn erging,
im Archiv nicht mehr zu finden waren. Ihr Verschwinden wird vielleicht ein
Rätsel bleiben, während sich wohl noch ermitteln lassen dürfte, wie die beiden
aus einem Packet des Archivs genommenen Szenen Valentins und der Wal¬
purgisnacht nach Berlin gekommen sind, wo Friedrich Wilhelm IV. sie am 31. Juli
1841 der königlichen Bibliothek schenkte.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/100>, abgerufen am 31.10.2024.