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Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809.

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I. Periode. I. Theil.
Continentalhändeln kaum Antheil haben nehmen können,
hätte ihm nicht der noch übrige Besitz von Calais gleichsam
das Thor von Frankreich eröffnet; jedoch ein Thor, durch
welches sich nicht mehr weit vordringen ließ.

Die Oestreichische Monarchie war erst im Wer-
den; da die meisten Besitzungen nicht weniger zerstreut als
ungewiß waren. Zu dem alten Besitze von Oestreich
(seit 1276) kamen seit 1477 durch die Heyrath Maximi-
lian's mit Maria von Burgund die Niederlande, und als
auch die Ansprüche der Habsburger auf Ungarn und Böh-
men
seit 1527 einen dauernden Besitz herbeyführten, ward
dieser nicht nur durch die Wahlreichen eignen Factionen,
sondern auch besonders in Ungarn durch die Türkenkriege
beschränkt. Auch die Kayserkrone gab wenig Kraft bey
vielem Glanze. Ohne die eröffnete Aussicht auf den Spa-
nischen
Thron (s. unten) wäre die Macht Oestreichs
sehr beschränkt geblieben.

Das deutsche Reich, voll Leben in seinen einzelnen
Theilen, blieb dennoch ohnmächtig als Ganzes, bis die Re-
formation seine Kräfte aufregte, aber meist nur zum innern
Zwist. Von allen Uebeln der innern Zerstückelung, und der
Uebermacht der Nachbarn gedrückt, behauptete sich doch die-
ser wunderbare Staat theils durch eigne Macht, theils
durch einzelne glückliche Verhältnisse, theils aber, und vor-
züglich, durch die bald allgemein werdende Ueberzeugung,
daß an seine Erhaltung und Freyheit die des ganzen S[t]aa-
tensystems von Europa geknüpft sey. Wie hätte auch ohne
einen solchen Centralstaat, Niemanden furchtbar, aber
Allen wichtig, ein solches System sich nur ausbilden mö-
gen? War nicht auch an diese Form die Cultur deutscher
Nation, und mit ihr ein wesentlicher Theil der Cultur
Europas geknüpft? Die endliche Auflösung eines Staats
giebt nicht den Maaßstab seines Werths, und doch wird
vielleicht gerade hier der Untergang diesen für Europa erst
recht fühlbar machen.

Die

I. Periode. I. Theil.
Continentalhaͤndeln kaum Antheil haben nehmen koͤnnen,
haͤtte ihm nicht der noch uͤbrige Beſitz von Calais gleichſam
das Thor von Frankreich eroͤffnet; jedoch ein Thor, durch
welches ſich nicht mehr weit vordringen ließ.

Die Oeſtreichiſche Monarchie war erſt im Wer-
den; da die meiſten Beſitzungen nicht weniger zerſtreut als
ungewiß waren. Zu dem alten Beſitze von Oeſtreich
(ſeit 1276) kamen ſeit 1477 durch die Heyrath Maximi-
lian's mit Maria von Burgund die Niederlande, und als
auch die Anſpruͤche der Habsburger auf Ungarn und Boͤh-
men
ſeit 1527 einen dauernden Beſitz herbeyfuͤhrten, ward
dieſer nicht nur durch die Wahlreichen eignen Factionen,
ſondern auch beſonders in Ungarn durch die Tuͤrkenkriege
beſchraͤnkt. Auch die Kayſerkrone gab wenig Kraft bey
vielem Glanze. Ohne die eroͤffnete Ausſicht auf den Spa-
niſchen
Thron (ſ. unten) waͤre die Macht Oeſtreichs
ſehr beſchraͤnkt geblieben.

Das deutſche Reich, voll Leben in ſeinen einzelnen
Theilen, blieb dennoch ohnmaͤchtig als Ganzes, bis die Re-
formation ſeine Kraͤfte aufregte, aber meiſt nur zum innern
Zwiſt. Von allen Uebeln der innern Zerſtuͤckelung, und der
Uebermacht der Nachbarn gedruͤckt, behauptete ſich doch die-
ſer wunderbare Staat theils durch eigne Macht, theils
durch einzelne gluͤckliche Verhaͤltniſſe, theils aber, und vor-
zuͤglich, durch die bald allgemein werdende Ueberzeugung,
daß an ſeine Erhaltung und Freyheit die des ganzen S[t]aa-
tenſyſtems von Europa geknuͤpft ſey. Wie haͤtte auch ohne
einen ſolchen Centralſtaat, Niemanden furchtbar, aber
Allen wichtig, ein ſolches Syſtem ſich nur ausbilden moͤ-
gen? War nicht auch an dieſe Form die Cultur deutſcher
Nation, und mit ihr ein weſentlicher Theil der Cultur
Europas geknuͤpft? Die endliche Aufloͤſung eines Staats
giebt nicht den Maaßſtab ſeines Werths, und doch wird
vielleicht gerade hier der Untergang dieſen fuͤr Europa erſt
recht fuͤhlbar machen.

Die
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[18/0056] I. Periode. I. Theil. Continentalhaͤndeln kaum Antheil haben nehmen koͤnnen, haͤtte ihm nicht der noch uͤbrige Beſitz von Calais gleichſam das Thor von Frankreich eroͤffnet; jedoch ein Thor, durch welches ſich nicht mehr weit vordringen ließ. Die Oeſtreichiſche Monarchie war erſt im Wer- den; da die meiſten Beſitzungen nicht weniger zerſtreut als ungewiß waren. Zu dem alten Beſitze von Oeſtreich (ſeit 1276) kamen ſeit 1477 durch die Heyrath Maximi- lian's mit Maria von Burgund die Niederlande, und als auch die Anſpruͤche der Habsburger auf Ungarn und Boͤh- men ſeit 1527 einen dauernden Beſitz herbeyfuͤhrten, ward dieſer nicht nur durch die Wahlreichen eignen Factionen, ſondern auch beſonders in Ungarn durch die Tuͤrkenkriege beſchraͤnkt. Auch die Kayſerkrone gab wenig Kraft bey vielem Glanze. Ohne die eroͤffnete Ausſicht auf den Spa- niſchen Thron (ſ. unten) waͤre die Macht Oeſtreichs ſehr beſchraͤnkt geblieben. Das deutſche Reich, voll Leben in ſeinen einzelnen Theilen, blieb dennoch ohnmaͤchtig als Ganzes, bis die Re- formation ſeine Kraͤfte aufregte, aber meiſt nur zum innern Zwiſt. Von allen Uebeln der innern Zerſtuͤckelung, und der Uebermacht der Nachbarn gedruͤckt, behauptete ſich doch die- ſer wunderbare Staat theils durch eigne Macht, theils durch einzelne gluͤckliche Verhaͤltniſſe, theils aber, und vor- zuͤglich, durch die bald allgemein werdende Ueberzeugung, daß an ſeine Erhaltung und Freyheit die des ganzen Staa- tenſyſtems von Europa geknuͤpft ſey. Wie haͤtte auch ohne einen ſolchen Centralſtaat, Niemanden furchtbar, aber Allen wichtig, ein ſolches Syſtem ſich nur ausbilden moͤ- gen? War nicht auch an dieſe Form die Cultur deutſcher Nation, und mit ihr ein weſentlicher Theil der Cultur Europas geknuͤpft? Die endliche Aufloͤſung eines Staats giebt nicht den Maaßſtab ſeines Werths, und doch wird vielleicht gerade hier der Untergang dieſen fuͤr Europa erſt recht fuͤhlbar machen. Die

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Zitationshilfe: Heeren, Arnold H. L.: Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Göttingen, 1809, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heeren_staatensystem_1809/56>, abgerufen am 30.04.2024.