"Er sei ein Deutscher, ein Wahle, oder was er will, gewesen; er war Einer von den ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au- gen, wie im Traum ihren Weg so fortschlen- dern. Entweder weil sie nicht selbst denken können, oder aus Kleinmuth nicht selbst den- ken zu dörfen vermeinen, oder aus Gemäch- lichkeit nicht wollen, halten sie fest an dem, was sie in ihrer Kindheit gelernt haben: und glücklich gnug, wenn sie nur von andern nicht verlangen, daß sie ihrem Beispiel hierinn fol- gen sollen." *)
"Das Ding, das man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eignen Augen wenigstens sehen wol- len. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen. Ja in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem
*) Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.
45.
„Er ſei ein Deutſcher, ein Wahle, oder was er will, geweſen; er war Einer von den ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au- gen, wie im Traum ihren Weg ſo fortſchlen- dern. Entweder weil ſie nicht ſelbſt denken koͤnnen, oder aus Kleinmuth nicht ſelbſt den- ken zu doͤrfen vermeinen, oder aus Gemaͤch- lichkeit nicht wollen, halten ſie feſt an dem, was ſie in ihrer Kindheit gelernt haben: und gluͤcklich gnug, wenn ſie nur von andern nicht verlangen, daß ſie ihrem Beiſpiel hierinn fol- gen ſollen.“ *)
„Das Ding, das man Ketzer nennt, hat eine ſehr gute Seite. Es iſt ein Menſch, der mit ſeinen eignen Augen wenigſtens ſehen wol- len. Die Frage iſt nur, ob es gute Augen geweſen, mit welchen er ſelbſt ſehen wollen. Ja in gewiſſen Jahrhunderten iſt der Name Ketzer die groͤßte Empfehlung, die von einem
*) Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.
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45.
„Er ſei ein Deutſcher, ein Wahle, oder
was er will, geweſen; er war Einer von den
ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au-
gen, wie im Traum ihren Weg ſo fortſchlen-
dern. Entweder weil ſie nicht ſelbſt denken
koͤnnen, oder aus Kleinmuth nicht ſelbſt den-
ken zu doͤrfen vermeinen, oder aus Gemaͤch-
lichkeit nicht wollen, halten ſie feſt an dem,
was ſie in ihrer Kindheit gelernt haben: und
gluͤcklich gnug, wenn ſie nur von andern nicht
verlangen, daß ſie ihrem Beiſpiel hierinn fol-
gen ſollen.“ *)
„Das Ding, das man Ketzer nennt, hat
eine ſehr gute Seite. Es iſt ein Menſch, der
mit ſeinen eignen Augen wenigſtens ſehen wol-
len. Die Frage iſt nur, ob es gute Augen
geweſen, mit welchen er ſelbſt ſehen wollen.
Ja in gewiſſen Jahrhunderten iſt der Name
Ketzer die groͤßte Empfehlung, die von einem
*) Berengar. Turon. Th. 13. S. 11.
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/124>, abgerufen am 18.06.2024.
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