"Krank will ich wohl einmahl seyn; aber sterben will ich deßwegen noch nicht. Alle Veränderungen unseres Temperaments, glau- be ich, sind mit Handlungen unsrer animali- schen Oekonomie verbunden. Die ernstliche Epoche meines Lebens nahet heran! ich begin- ne ein Mann zu werden, und schmeichle mir, daß ich in diesem hitzigen Fieber den letzten Rest meiner jugendlichen Thorheiten verra- set habe. Glückliche Krankheit! Aber soll- ten sich wohl Dichter eine athletische Gesund- heit wünschen? Sollte der Phantasie, der Empfindung nicht ein gewisser Grad von Un- päßlichkeit weit zuträglicher seyn? Wünschen Sie mich also gesund, aber wo möglich mit einem kleinen Denkzeichen, das dem Dich- ter von Zeit zu Zeit den hinfälligen Menschen empfinden lasse, und ihm zu Gemüth führe, daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles neunzig Jahr werden; aber, wenn sie es auch würden, daß Sophokles auch an die neunzig
25.
„Krank will ich wohl einmahl ſeyn; aber ſterben will ich deßwegen noch nicht. Alle Veraͤnderungen unſeres Temperaments, glau- be ich, ſind mit Handlungen unſrer animali- ſchen Oekonomie verbunden. Die ernſtliche Epoche meines Lebens nahet heran! ich begin- ne ein Mann zu werden, und ſchmeichle mir, daß ich in dieſem hitzigen Fieber den letzten Reſt meiner jugendlichen Thorheiten verra- ſet habe. Gluͤckliche Krankheit! Aber ſoll- ten ſich wohl Dichter eine athletiſche Geſund- heit wuͤnſchen? Sollte der Phantaſie, der Empfindung nicht ein gewiſſer Grad von Un- paͤßlichkeit weit zutraͤglicher ſeyn? Wuͤnſchen Sie mich alſo geſund, aber wo moͤglich mit einem kleinen Denkzeichen, das dem Dich- ter von Zeit zu Zeit den hinfaͤlligen Menſchen empfinden laſſe, und ihm zu Gemuͤth fuͤhre, daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles neunzig Jahr werden; aber, wenn ſie es auch wuͤrden, daß Sophokles auch an die neunzig
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25.
„Krank will ich wohl einmahl ſeyn; aber
ſterben will ich deßwegen noch nicht. Alle
Veraͤnderungen unſeres Temperaments, glau-
be ich, ſind mit Handlungen unſrer animali-
ſchen Oekonomie verbunden. Die ernſtliche
Epoche meines Lebens nahet heran! ich begin-
ne ein Mann zu werden, und ſchmeichle mir,
daß ich in dieſem hitzigen Fieber den letzten
Reſt meiner jugendlichen Thorheiten verra-
ſet habe. Gluͤckliche Krankheit! Aber ſoll-
ten ſich wohl Dichter eine athletiſche Geſund-
heit wuͤnſchen? Sollte der Phantaſie, der
Empfindung nicht ein gewiſſer Grad von Un-
paͤßlichkeit weit zutraͤglicher ſeyn? Wuͤnſchen
Sie mich alſo geſund, aber wo moͤglich mit
einem kleinen Denkzeichen, das dem Dich-
ter von Zeit zu Zeit den hinfaͤlligen Menſchen
empfinden laſſe, und ihm zu Gemuͤth fuͤhre,
daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles
neunzig Jahr werden; aber, wenn ſie es auch
wuͤrden, daß Sophokles auch an die neunzig
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/94>, abgerufen am 17.06.2024.
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