schienen, so erscheinen sie doch an Etwas: also einem andern Sinne, also ursprünglich nicht dem Auge. Jch begreife es wohl, daß man die auf- schwebende Lichtflamme nicht tasten und das wal- lende Meer in jeder Welle nicht als Solidum um- fassen kann; daraus folgt aber nicht, daß unsre Seele sie nicht umfasse, nicht taste. Kurz, so wie Fläche nur ein Abstraktum vom Körper und Linie das Abstrakt einer geendeten Fläche ist; so sind beide ohne Körper nicht möglich.
Es ist sonderbar, daß Hogarth, der die Reiz- und Schönheitslinie, wie man sagt, erfand, so wenig Reiz und Schönheit mahlte. Seine Formen sind meistens häßliche Carrikatur, aber voll Charakter, Leidenschaft, Leben, Wahrheit, weil diese auf ihn drang, weil die sein Genius le- bendig erfaßte. Er zeigte thätlich, was die ge- sunde Theorie noch mehr bestärkt, daß alle Um- risse und Linien der Mahlerei von Körper und lebendigem Leben abhangen, und daß, wenn diese Kunst nur Anschein dessen in einer Flächen- figur giebt, dies nur daher komme, weil sie nicht mehr geben kann. Jhr Sinn und ihr Medium, Gesicht und Licht verbieten, mehr zu geben; sie kämpft aber, so viel sie kann, mit beiden, um die Figur vom Grunde zu reißen und der Phan- tasie Flug zu geben, daß sie nicht mehr sehe, sondern genieße, taste, fühle. Folglich sind
alle
ſchienen, ſo erſcheinen ſie doch an Etwas: alſo einem andern Sinne, alſo urſpruͤnglich nicht dem Auge. Jch begreife es wohl, daß man die auf- ſchwebende Lichtflamme nicht taſten und das wal- lende Meer in jeder Welle nicht als Solidum um- faſſen kann; daraus folgt aber nicht, daß unſre Seele ſie nicht umfaſſe, nicht taſte. Kurz, ſo wie Flaͤche nur ein Abſtraktum vom Koͤrper und Linie das Abſtrakt einer geendeten Flaͤche iſt; ſo ſind beide ohne Koͤrper nicht moͤglich.
Es iſt ſonderbar, daß Hogarth, der die Reiz- und Schoͤnheitslinie, wie man ſagt, erfand, ſo wenig Reiz und Schoͤnheit mahlte. Seine Formen ſind meiſtens haͤßliche Carrikatur, aber voll Charakter, Leidenſchaft, Leben, Wahrheit, weil dieſe auf ihn drang, weil die ſein Genius le- bendig erfaßte. Er zeigte thaͤtlich, was die ge- ſunde Theorie noch mehr beſtaͤrkt, daß alle Um- riſſe und Linien der Mahlerei von Koͤrper und lebendigem Leben abhangen, und daß, wenn dieſe Kunſt nur Anſchein deſſen in einer Flaͤchen- figur giebt, dies nur daher komme, weil ſie nicht mehr geben kann. Jhr Sinn und ihr Medium, Geſicht und Licht verbieten, mehr zu geben; ſie kaͤmpft aber, ſo viel ſie kann, mit beiden, um die Figur vom Grunde zu reißen und der Phan- taſie Flug zu geben, daß ſie nicht mehr ſehe, ſondern genieße, taſte, fuͤhle. Folglich ſind
alle
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[64/0067]
ſchienen, ſo erſcheinen ſie doch an Etwas: alſo
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ſchwebende Lichtflamme nicht taſten und das wal-
lende Meer in jeder Welle nicht als Solidum um-
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Seele ſie nicht umfaſſe, nicht taſte. Kurz, ſo
wie Flaͤche nur ein Abſtraktum vom Koͤrper und
Linie das Abſtrakt einer geendeten Flaͤche iſt; ſo
ſind beide ohne Koͤrper nicht moͤglich.
Es iſt ſonderbar, daß Hogarth, der die
Reiz- und Schoͤnheitslinie, wie man ſagt, erfand,
ſo wenig Reiz und Schoͤnheit mahlte. Seine
Formen ſind meiſtens haͤßliche Carrikatur, aber
voll Charakter, Leidenſchaft, Leben, Wahrheit,
weil dieſe auf ihn drang, weil die ſein Genius le-
bendig erfaßte. Er zeigte thaͤtlich, was die ge-
ſunde Theorie noch mehr beſtaͤrkt, daß alle Um-
riſſe und Linien der Mahlerei von Koͤrper und
lebendigem Leben abhangen, und daß, wenn
dieſe Kunſt nur Anſchein deſſen in einer Flaͤchen-
figur giebt, dies nur daher komme, weil ſie nicht
mehr geben kann. Jhr Sinn und ihr Medium,
Geſicht und Licht verbieten, mehr zu geben; ſie
kaͤmpft aber, ſo viel ſie kann, mit beiden, um
die Figur vom Grunde zu reißen und der Phan-
taſie Flug zu geben, daß ſie nicht mehr ſehe,
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/67>, abgerufen am 16.06.2024.
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