"er stand, mit breiten Schultern dem Ulysses "vorragte, aber wenn beide sassen, schien Ulysses "der Ansehnlichere" -- in solchen zwei Zügen, vom müssigen Thurm gezeichnet, stehen sie leib- haft da und zeigen nachher nur die bestimmte Form ihrer Glieder in bestimmter einzelner Handlung. So Homer: und daß nicht blos der Epische Dichter also schildert, weil ihn die Handlung fortreißt, sondern die Griechen sich nie Schönheit als in bestimmter Form dachten, mag uns selbst Anakreons Bathyllus lehren. Ein Liedchen der Wohllust, denkt man, kann doch wohl am ersten ein gesammleter Duft, ein schwe- bendes Gewebe, eine Blumenlese seyn von man- cherlei Traumzügen: es ists und ists nicht. Es saugt von vielen Blumen den Honig, aber zu einer sehr bestimmten Gestalt: der Jüngling verwandelt sich plötzlich in einen Apollo, oder vielmehr Apollo in den Jüngling und die Statue steht da.
Ohne Zweifel hat dies außerordentlich Be- stimmte, treu Erfaßte in der Form jeder Stel- lung, jeder Leidenschaft, jedes Charakters den Griechen zu der Höhe der Kunst geholfen, die seit der Zeit nicht mehr auf der Erde erschienen ist. Sie sahen als Blinde und tasteten sehend: durch keine Brille des Systems oder Jdeals, das et- wa ein schwebend Spinnengewebe der Herbstluft
zur
„er ſtand, mit breiten Schultern dem Ulyſſes „vorragte, aber wenn beide ſaſſen, ſchien Ulyſſes „der Anſehnlichere„ — in ſolchen zwei Zuͤgen, vom muͤſſigen Thurm gezeichnet, ſtehen ſie leib- haft da und zeigen nachher nur die beſtimmte Form ihrer Glieder in beſtimmter einzelner Handlung. So Homer: und daß nicht blos der Epiſche Dichter alſo ſchildert, weil ihn die Handlung fortreißt, ſondern die Griechen ſich nie Schoͤnheit als in beſtimmter Form dachten, mag uns ſelbſt Anakreons Bathyllus lehren. Ein Liedchen der Wohlluſt, denkt man, kann doch wohl am erſten ein geſammleter Duft, ein ſchwe- bendes Gewebe, eine Blumenleſe ſeyn von man- cherlei Traumzuͤgen: es iſts und iſts nicht. Es ſaugt von vielen Blumen den Honig, aber zu einer ſehr beſtimmten Geſtalt: der Juͤngling verwandelt ſich ploͤtzlich in einen Apollo, oder vielmehr Apollo in den Juͤngling und die Statue ſteht da.
Ohne Zweifel hat dies außerordentlich Be- ſtimmte, treu Erfaßte in der Form jeder Stel- lung, jeder Leidenſchaft, jedes Charakters den Griechen zu der Hoͤhe der Kunſt geholfen, die ſeit der Zeit nicht mehr auf der Erde erſchienen iſt. Sie ſahen als Blinde und taſteten ſehend: durch keine Brille des Syſtems oder Jdeals, das et- wa ein ſchwebend Spinnengewebe der Herbſtluft
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„er ſtand, mit breiten Schultern dem Ulyſſes
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vom muͤſſigen Thurm gezeichnet, ſtehen ſie leib-
haft da und zeigen nachher nur die beſtimmte
Form ihrer Glieder in beſtimmter einzelner
Handlung. So Homer: und daß nicht blos
der Epiſche Dichter alſo ſchildert, weil ihn die
Handlung fortreißt, ſondern die Griechen ſich nie
Schoͤnheit als in beſtimmter Form dachten, mag
uns ſelbſt Anakreons Bathyllus lehren. Ein
Liedchen der Wohlluſt, denkt man, kann doch
wohl am erſten ein geſammleter Duft, ein ſchwe-
bendes Gewebe, eine Blumenleſe ſeyn von man-
cherlei Traumzuͤgen: es iſts und iſts nicht. Es
ſaugt von vielen Blumen den Honig, aber zu
einer ſehr beſtimmten Geſtalt: der Juͤngling
verwandelt ſich ploͤtzlich in einen Apollo, oder
vielmehr Apollo in den Juͤngling und die Statue
ſteht da.
Ohne Zweifel hat dies außerordentlich Be-
ſtimmte, treu Erfaßte in der Form jeder Stel-
lung, jeder Leidenſchaft, jedes Charakters den
Griechen zu der Hoͤhe der Kunſt geholfen, die
ſeit der Zeit nicht mehr auf der Erde erſchienen iſt.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/99>, abgerufen am 18.06.2024.
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