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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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Nur eine schmale Mondsichel stand über den Dä¬
chern. Aber die Häuser waren hell, die Balcone und
Fenster belebt; auf dem Corso wallte ein muntres
Gewoge von sorglosen Menschen, die sich nach dem
Tagesbrande erfrischten, lachende Mädchengesichter,
fremde und römische, so leicht gekleidet, wie sie sich
aus den Zimmern fortgeschlichen hatten. Die Straße
glich einem langen Corridor neben einem Festsaal,
wo sich die Gesellschaft zwischen den Tänzen in küh¬
lerem Zwielicht ergeht. Hie und da drang auch
Musik aus einem Hause vor und eine Mädchenstimme
unter der Menge sang leise die Melodie nach.

Theodor mußte den Strom kreuzen. Er kam sich
vor wie ein Abgeschiedener, der nichts mehr vom Le¬
ben will, den es nur noch zu einem Freunde treibt,
um eine unvollzogene Pflicht ihm zu offenbaren, ehe
er für immer ruht. Er vertiefte sich in öde schmale
Gassen, die nach der Tiber führen, und ging so hin
ohne die Kraft, irgend einen Gedanken fest zu halten.
Endlich, von der vergeblichen Anstrengung ermattet,
ließ er seinen Geist auf der leeren Weite des Schmer¬
zes treiben, wie auf dem uferlosen Meer in der
Windstille.

So kam er an den Theil des Ufers hinaus, der
Riva grande heißt, wo die Kähne liegen, die nach
Ostia fahren, die kleinen Postdampfboote und andere
Fahrzeuge mehr. Von da hinunter bis zur Ripetta

Nur eine ſchmale Mondſichel ſtand über den Dä¬
chern. Aber die Häuſer waren hell, die Balcone und
Fenſter belebt; auf dem Corſo wallte ein muntres
Gewoge von ſorgloſen Menſchen, die ſich nach dem
Tagesbrande erfriſchten, lachende Mädchengeſichter,
fremde und römiſche, ſo leicht gekleidet, wie ſie ſich
aus den Zimmern fortgeſchlichen hatten. Die Straße
glich einem langen Corridor neben einem Feſtſaal,
wo ſich die Geſellſchaft zwiſchen den Tänzen in küh¬
lerem Zwielicht ergeht. Hie und da drang auch
Muſik aus einem Hauſe vor und eine Mädchenſtimme
unter der Menge ſang leiſe die Melodie nach.

Theodor mußte den Strom kreuzen. Er kam ſich
vor wie ein Abgeſchiedener, der nichts mehr vom Le¬
ben will, den es nur noch zu einem Freunde treibt,
um eine unvollzogene Pflicht ihm zu offenbaren, ehe
er für immer ruht. Er vertiefte ſich in öde ſchmale
Gaſſen, die nach der Tiber führen, und ging ſo hin
ohne die Kraft, irgend einen Gedanken feſt zu halten.
Endlich, von der vergeblichen Anſtrengung ermattet,
ließ er ſeinen Geiſt auf der leeren Weite des Schmer¬
zes treiben, wie auf dem uferloſen Meer in der
Windſtille.

So kam er an den Theil des Ufers hinaus, der
Riva grande heißt, wo die Kähne liegen, die nach
Oſtia fahren, die kleinen Poſtdampfboote und andere
Fahrzeuge mehr. Von da hinunter bis zur Ripetta

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[208/0220] Nur eine ſchmale Mondſichel ſtand über den Dä¬ chern. Aber die Häuſer waren hell, die Balcone und Fenſter belebt; auf dem Corſo wallte ein muntres Gewoge von ſorgloſen Menſchen, die ſich nach dem Tagesbrande erfriſchten, lachende Mädchengeſichter, fremde und römiſche, ſo leicht gekleidet, wie ſie ſich aus den Zimmern fortgeſchlichen hatten. Die Straße glich einem langen Corridor neben einem Feſtſaal, wo ſich die Geſellſchaft zwiſchen den Tänzen in küh¬ lerem Zwielicht ergeht. Hie und da drang auch Muſik aus einem Hauſe vor und eine Mädchenſtimme unter der Menge ſang leiſe die Melodie nach. Theodor mußte den Strom kreuzen. Er kam ſich vor wie ein Abgeſchiedener, der nichts mehr vom Le¬ ben will, den es nur noch zu einem Freunde treibt, um eine unvollzogene Pflicht ihm zu offenbaren, ehe er für immer ruht. Er vertiefte ſich in öde ſchmale Gaſſen, die nach der Tiber führen, und ging ſo hin ohne die Kraft, irgend einen Gedanken feſt zu halten. Endlich, von der vergeblichen Anſtrengung ermattet, ließ er ſeinen Geiſt auf der leeren Weite des Schmer¬ zes treiben, wie auf dem uferloſen Meer in der Windſtille. So kam er an den Theil des Ufers hinaus, der Riva grande heißt, wo die Kähne liegen, die nach Oſtia fahren, die kleinen Poſtdampfboote und andere Fahrzeuge mehr. Von da hinunter bis zur Ripetta

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/220>, abgerufen am 30.04.2024.