scheiden, daß die Verhältnisse zwischen Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff dort und hier ein klein wenig anders sind, wie sollte man da bestreiten, daß es der Chemie noch gelingen könnte, jene ungeheuren vegetabilischen Massen, jene Gewebe verhärteter Fasern, aus denen die Stämme unserer Wald- bäume bestehen, in Nahrungsstoff zu verwandeln? Von Be- lang könnte eine solche Entdeckung nur werden, wenn das Verfahren einfach und nicht kostspielig wäre; unter dieser, allerdings keineswegs wahrscheinlichen Voraussetzung müßten aber dadurch in der ganzen Verfassung des Gesellschaftskör- pers, im Tagelohn, in der Verteilung der Bevölkerung über die Erdoberfläche die größten Veränderungen eintreten. Einer- seits würde der Mensch damit unabhängiger, andererseits wäre die notwendige Folge, daß die Bande der Gesellschaft sich lösten und die Grundlagen des Gewerbfleißes und der Kultur untergraben würden.
Das kleine Dorf Uruana ist schwerer zu regieren als die meisten anderen Missionen. Die Otomaken sind ein unruhiges, lärmendes, in seinen Leidenschaften ungezügeltes Volk. Nicht nur sind sie dem Genusse der gegorenen Getränke aus Maniok und Mais und des Palmweines im Uebermaße ergeben, sie versetzen sich auch noch in einen eigentümlichen Zustand von Rausch, man könnte fast sagen von Wahnsinn, durch den Gebrauch des Niopopulvers. 1 Sie sammeln die langen Schoten einer Mimosenart, die wir unter dem Namen Acacia Niopo bekannt gemacht haben; sie reißen sie in Stücke, feuch- ten sie an und lassen sie gären. Wenn die durchweichten Pflanzen anfangen schwarz zu werden, kneten sie dieselben wie einen Teig, mengen Maniokmehl und Kalk, der aus der Muschel einer Ampullaria gebrannt wird, darunter und setzen die Masse auf einem Roste von hartem Holze einem starken Feuer aus. Der erhärtete Teig bildet kleine Kuchen. Will man sich derselben bedienen, so werden sie zu feinem Pulver zerrieben und dieses auf einen 13 bis 16 cm breiten Teller gestreut. Der Otomake hält den Teller, der einen Stiel hat, in der rechten Hand und zieht das Niopo durch einen gabel- förmigen Vogelknochen, dessen zwei Enden in die Nasenlöcher gesteckt sind, in die Nase. Der Knochen, ohne den der Oto- make diese Art Schnupftabak nicht nehmen zu können meinte, ist 18 cm lang und es schien mir der Fußwurzelknochen
1 Maypurisch Nupa; die Missionäre sagen Nopo.
ſcheiden, daß die Verhältniſſe zwiſchen Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Kohlenſtoff dort und hier ein klein wenig anders ſind, wie ſollte man da beſtreiten, daß es der Chemie noch gelingen könnte, jene ungeheuren vegetabiliſchen Maſſen, jene Gewebe verhärteter Faſern, aus denen die Stämme unſerer Wald- bäume beſtehen, in Nahrungsſtoff zu verwandeln? Von Be- lang könnte eine ſolche Entdeckung nur werden, wenn das Verfahren einfach und nicht koſtſpielig wäre; unter dieſer, allerdings keineswegs wahrſcheinlichen Vorausſetzung müßten aber dadurch in der ganzen Verfaſſung des Geſellſchaftskör- pers, im Tagelohn, in der Verteilung der Bevölkerung über die Erdoberfläche die größten Veränderungen eintreten. Einer- ſeits würde der Menſch damit unabhängiger, andererſeits wäre die notwendige Folge, daß die Bande der Geſellſchaft ſich löſten und die Grundlagen des Gewerbfleißes und der Kultur untergraben würden.
Das kleine Dorf Uruana iſt ſchwerer zu regieren als die meiſten anderen Miſſionen. Die Otomaken ſind ein unruhiges, lärmendes, in ſeinen Leidenſchaften ungezügeltes Volk. Nicht nur ſind ſie dem Genuſſe der gegorenen Getränke aus Maniok und Mais und des Palmweines im Uebermaße ergeben, ſie verſetzen ſich auch noch in einen eigentümlichen Zuſtand von Rauſch, man könnte faſt ſagen von Wahnſinn, durch den Gebrauch des Niopopulvers. 1 Sie ſammeln die langen Schoten einer Mimoſenart, die wir unter dem Namen Acacia Niopo bekannt gemacht haben; ſie reißen ſie in Stücke, feuch- ten ſie an und laſſen ſie gären. Wenn die durchweichten Pflanzen anfangen ſchwarz zu werden, kneten ſie dieſelben wie einen Teig, mengen Maniokmehl und Kalk, der aus der Muſchel einer Ampullaria gebrannt wird, darunter und ſetzen die Maſſe auf einem Roſte von hartem Holze einem ſtarken Feuer aus. Der erhärtete Teig bildet kleine Kuchen. Will man ſich derſelben bedienen, ſo werden ſie zu feinem Pulver zerrieben und dieſes auf einen 13 bis 16 cm breiten Teller geſtreut. Der Otomake hält den Teller, der einen Stiel hat, in der rechten Hand und zieht das Niopo durch einen gabel- förmigen Vogelknochen, deſſen zwei Enden in die Naſenlöcher geſteckt ſind, in die Naſe. Der Knochen, ohne den der Oto- make dieſe Art Schnupftabak nicht nehmen zu können meinte, iſt 18 cm lang und es ſchien mir der Fußwurzelknochen
1 Maypuriſch Nupa; die Miſſionäre ſagen Nopo.
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ſcheiden, daß die Verhältniſſe zwiſchen Sauerſtoff, Waſſerſtoff
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könnte, jene ungeheuren vegetabiliſchen Maſſen, jene Gewebe
verhärteter Faſern, aus denen die Stämme unſerer Wald-
bäume beſtehen, in Nahrungsſtoff zu verwandeln? Von Be-
lang könnte eine ſolche Entdeckung nur werden, wenn das
Verfahren einfach und nicht koſtſpielig wäre; unter dieſer,
allerdings keineswegs wahrſcheinlichen Vorausſetzung müßten
aber dadurch in der ganzen Verfaſſung des Geſellſchaftskör-
pers, im Tagelohn, in der Verteilung der Bevölkerung über
die Erdoberfläche die größten Veränderungen eintreten. Einer-
ſeits würde der Menſch damit unabhängiger, andererſeits wäre
die notwendige Folge, daß die Bande der Geſellſchaft ſich
löſten und die Grundlagen des Gewerbfleißes und der Kultur
untergraben würden.
Das kleine Dorf Uruana iſt ſchwerer zu regieren als die
meiſten anderen Miſſionen. Die Otomaken ſind ein unruhiges,
lärmendes, in ſeinen Leidenſchaften ungezügeltes Volk. Nicht
nur ſind ſie dem Genuſſe der gegorenen Getränke aus Maniok
und Mais und des Palmweines im Uebermaße ergeben, ſie
verſetzen ſich auch noch in einen eigentümlichen Zuſtand von
Rauſch, man könnte faſt ſagen von Wahnſinn, durch den
Gebrauch des Niopopulvers. 1 Sie ſammeln die langen
Schoten einer Mimoſenart, die wir unter dem Namen Acacia
Niopo bekannt gemacht haben; ſie reißen ſie in Stücke, feuch-
ten ſie an und laſſen ſie gären. Wenn die durchweichten
Pflanzen anfangen ſchwarz zu werden, kneten ſie dieſelben wie
einen Teig, mengen Maniokmehl und Kalk, der aus der
Muſchel einer Ampullaria gebrannt wird, darunter und ſetzen
die Maſſe auf einem Roſte von hartem Holze einem ſtarken
Feuer aus. Der erhärtete Teig bildet kleine Kuchen. Will
man ſich derſelben bedienen, ſo werden ſie zu feinem Pulver
zerrieben und dieſes auf einen 13 bis 16 cm breiten Teller
geſtreut. Der Otomake hält den Teller, der einen Stiel hat,
in der rechten Hand und zieht das Niopo durch einen gabel-
förmigen Vogelknochen, deſſen zwei Enden in die Naſenlöcher
geſteckt ſind, in die Naſe. Der Knochen, ohne den der Oto-
make dieſe Art Schnupftabak nicht nehmen zu können meinte,
iſt 18 cm lang und es ſchien mir der Fußwurzelknochen
1 Maypuriſch Nupa; die Miſſionäre ſagen Nopo.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/142>, abgerufen am 17.06.2024.
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