fehlt. Nach einem schon oben erwähnten barbarischen Brauch begnadigt man denjenigen der Uebelthäter, der es auf sich nehmen will, die anderen zu henken. Unsere Führer erzählten uns, kurz vor unserer Ankunft auf der Küste von Cumana habe ein wegen seiner Roheit berüchtigter Zambo sich ent- schlossen, Henker zu werden und sich so der Strafe zu entziehen. Die Zurüstungen zur Hinrichtung machten ihn aber in seinem Entschlusse wankend; er entsetzte sich über sich selbst, er zog den Tod der Schande vor, die er vollends auf sich häufte, wenn er sich das Leben rettete, und ließ sich die Ketten, die man ihm abgenommen, wieder anlegen. Er saß nicht mehr lange; die Niederträchtigkeit eines Mitschuldigen half ihm zum Vollzug seiner Strafe. Ein solches Erwachen des Ehr- gefühls in der Seele eines Mörders ist eine psychologische Erscheinung, die zum Nachdenken auffordert. Ein Mensch, der beim Berauben der Reisenden in der Steppe schon so oft Blut vergossen hat, schaudert beim Gedanken, sich zum Werk- zeug der Gerechtigkeit hergeben, an anderen eine Strafe voll- ziehen zu sollen, die er, wie er vielleicht fühlt, selbst ver- dient hat.
Wenn schon in den ruhigen Zeiten, in denen Bonpland und ich das Glück hatten, die beiden Amerika zu bereisen, die Llanos den Uebelthätern, welche in den Missionen am Orinoko ein Verbrechen begangen, oder aus den Gefängnissen des Küstenlandes entsprungen waren, als Versteck dienten, wie viel schlimmer mußte dies noch infolge der bürgerlichen Unruhen werden, im blutigen Kampfe, der mit der Freiheit und Unabhängigkeit dieser gewaltigen Länder seine Endschaft erreichte! Die französischen "Landes" und unsere Heiden geben nur ein entferntes Bild jener Grasfluren auf dem neuen Kontinent, wo Flächen von 162000 und 202000 qkm so eben sind wie der Meeresspiegel. Die Unermeßlichkeit des Raumes sichert dem Landstreicher die Straflosigkeit; in den Sa- vannen versteckt man sich leichter als in unseren Gebirgen und Wäldern, und die Kunstgriffe der europäischen Polizei sind schwer anwendbar, wo es wohl Reisende gibt, aber keine Wege, Herden, aber keine Hirten, und wo die Höfe so dünn gesäet sind, daß man, trotz des bedeutenden Einflusses der Luftspiegelung, ganze Tagereisen machen kann, ohne daß man einen am Horizont auftauchen sieht.
Zieht man über die Llanos von Caracas, Barcelona und Cumana, die von West nach Ost von den Bergen bei Truxillo
fehlt. Nach einem ſchon oben erwähnten barbariſchen Brauch begnadigt man denjenigen der Uebelthäter, der es auf ſich nehmen will, die anderen zu henken. Unſere Führer erzählten uns, kurz vor unſerer Ankunft auf der Küſte von Cumana habe ein wegen ſeiner Roheit berüchtigter Zambo ſich ent- ſchloſſen, Henker zu werden und ſich ſo der Strafe zu entziehen. Die Zurüſtungen zur Hinrichtung machten ihn aber in ſeinem Entſchluſſe wankend; er entſetzte ſich über ſich ſelbſt, er zog den Tod der Schande vor, die er vollends auf ſich häufte, wenn er ſich das Leben rettete, und ließ ſich die Ketten, die man ihm abgenommen, wieder anlegen. Er ſaß nicht mehr lange; die Niederträchtigkeit eines Mitſchuldigen half ihm zum Vollzug ſeiner Strafe. Ein ſolches Erwachen des Ehr- gefühls in der Seele eines Mörders iſt eine pſychologiſche Erſcheinung, die zum Nachdenken auffordert. Ein Menſch, der beim Berauben der Reiſenden in der Steppe ſchon ſo oft Blut vergoſſen hat, ſchaudert beim Gedanken, ſich zum Werk- zeug der Gerechtigkeit hergeben, an anderen eine Strafe voll- ziehen zu ſollen, die er, wie er vielleicht fühlt, ſelbſt ver- dient hat.
Wenn ſchon in den ruhigen Zeiten, in denen Bonpland und ich das Glück hatten, die beiden Amerika zu bereiſen, die Llanos den Uebelthätern, welche in den Miſſionen am Orinoko ein Verbrechen begangen, oder aus den Gefängniſſen des Küſtenlandes entſprungen waren, als Verſteck dienten, wie viel ſchlimmer mußte dies noch infolge der bürgerlichen Unruhen werden, im blutigen Kampfe, der mit der Freiheit und Unabhängigkeit dieſer gewaltigen Länder ſeine Endſchaft erreichte! Die franzöſiſchen „Landes“ und unſere Heiden geben nur ein entferntes Bild jener Grasfluren auf dem neuen Kontinent, wo Flächen von 162000 und 202000 qkm ſo eben ſind wie der Meeresſpiegel. Die Unermeßlichkeit des Raumes ſichert dem Landſtreicher die Strafloſigkeit; in den Sa- vannen verſteckt man ſich leichter als in unſeren Gebirgen und Wäldern, und die Kunſtgriffe der europäiſchen Polizei ſind ſchwer anwendbar, wo es wohl Reiſende gibt, aber keine Wege, Herden, aber keine Hirten, und wo die Höfe ſo dünn geſäet ſind, daß man, trotz des bedeutenden Einfluſſes der Luftſpiegelung, ganze Tagereiſen machen kann, ohne daß man einen am Horizont auftauchen ſieht.
Zieht man über die Llanos von Caracas, Barcelona und Cumana, die von Weſt nach Oſt von den Bergen bei Truxillo
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fehlt. Nach einem ſchon oben erwähnten barbariſchen Brauch
begnadigt man denjenigen der Uebelthäter, der es auf ſich
nehmen will, die anderen zu henken. Unſere Führer erzählten
uns, kurz vor unſerer Ankunft auf der Küſte von Cumana
habe ein wegen ſeiner Roheit berüchtigter Zambo ſich ent-
ſchloſſen, Henker zu werden und ſich ſo der Strafe zu entziehen.
Die Zurüſtungen zur Hinrichtung machten ihn aber in ſeinem
Entſchluſſe wankend; er entſetzte ſich über ſich ſelbſt, er zog
den Tod der Schande vor, die er vollends auf ſich häufte,
wenn er ſich das Leben rettete, und ließ ſich die Ketten, die
man ihm abgenommen, wieder anlegen. Er ſaß nicht mehr
lange; die Niederträchtigkeit eines Mitſchuldigen half ihm
zum Vollzug ſeiner Strafe. Ein ſolches Erwachen des Ehr-
gefühls in der Seele eines Mörders iſt eine pſychologiſche
Erſcheinung, die zum Nachdenken auffordert. Ein Menſch,
der beim Berauben der Reiſenden in der Steppe ſchon ſo oft
Blut vergoſſen hat, ſchaudert beim Gedanken, ſich zum Werk-
zeug der Gerechtigkeit hergeben, an anderen eine Strafe voll-
ziehen zu ſollen, die er, wie er vielleicht fühlt, ſelbſt ver-
dient hat.
Wenn ſchon in den ruhigen Zeiten, in denen Bonpland
und ich das Glück hatten, die beiden Amerika zu bereiſen,
die Llanos den Uebelthätern, welche in den Miſſionen am
Orinoko ein Verbrechen begangen, oder aus den Gefängniſſen
des Küſtenlandes entſprungen waren, als Verſteck dienten,
wie viel ſchlimmer mußte dies noch infolge der bürgerlichen
Unruhen werden, im blutigen Kampfe, der mit der Freiheit
und Unabhängigkeit dieſer gewaltigen Länder ſeine Endſchaft
erreichte! Die franzöſiſchen „Landes“ und unſere Heiden geben
nur ein entferntes Bild jener Grasfluren auf dem neuen
Kontinent, wo Flächen von 162000 und 202000 qkm ſo
eben ſind wie der Meeresſpiegel. Die Unermeßlichkeit des
Raumes ſichert dem Landſtreicher die Strafloſigkeit; in den Sa-
vannen verſteckt man ſich leichter als in unſeren Gebirgen
und Wäldern, und die Kunſtgriffe der europäiſchen Polizei
ſind ſchwer anwendbar, wo es wohl Reiſende gibt, aber keine
Wege, Herden, aber keine Hirten, und wo die Höfe ſo dünn
geſäet ſind, daß man, trotz des bedeutenden Einfluſſes der
Luftſpiegelung, ganze Tagereiſen machen kann, ohne daß man
einen am Horizont auftauchen ſieht.
Zieht man über die Llanos von Caracas, Barcelona und
Cumana, die von Weſt nach Oſt von den Bergen bei Truxillo
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/264>, abgerufen am 17.06.2024.
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