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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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wolkenreinen Höhe. Er vermochte aber den
lachenden Himmel und das grüne Land nicht
länger zu ertragen und wollte zur Stadt zurück,
wo er sich in dem Sterbegemach der Mutter ver¬
barg. Die Liebe und Sehnsucht zu Dortchen
wachte auf's Neue mit verdoppelter Macht auf,
seine Augen drangen den Sonnenstrahlen nach,
welche über die Dächer in die dunkle Wohnung
streiften, und seine Blicke glaubten auf dem gol¬
denen Wege, der zu einem schmalen Stückchen
blauer Luft führte, die Geliebte und das verlo¬
rene Glück finden zu müssen.

Er schrieb Alles an den Grafen; aber ehe eine
Antwort da sein konnte, rieb es ihn auf, sein Leib und
Leben brach und er starb in wenigen Tagen. Seine
Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen fest in
der Hand, worauf das Liedchen von der Hoff¬
nung geschrieben war. Er hatte es in der letzten
Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelassen,
und selbst wenn er einen Teller Suppe, seine
einzige Speise, gegessen, das Papierchen eifrig
mit dem Löffel zusammen in der Hand gehalten
oder es unterdessen in die andere Hand gesteckt.

wolkenreinen Hoͤhe. Er vermochte aber den
lachenden Himmel und das gruͤne Land nicht
laͤnger zu ertragen und wollte zur Stadt zuruͤck,
wo er ſich in dem Sterbegemach der Mutter ver¬
barg. Die Liebe und Sehnſucht zu Dortchen
wachte auf's Neue mit verdoppelter Macht auf,
ſeine Augen drangen den Sonnenſtrahlen nach,
welche uͤber die Daͤcher in die dunkle Wohnung
ſtreiften, und ſeine Blicke glaubten auf dem gol¬
denen Wege, der zu einem ſchmalen Stuͤckchen
blauer Luft fuͤhrte, die Geliebte und das verlo¬
rene Gluͤck finden zu muͤſſen.

Er ſchrieb Alles an den Grafen; aber ehe eine
Antwort da ſein konnte, rieb es ihn auf, ſein Leib und
Leben brach und er ſtarb in wenigen Tagen. Seine
Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen feſt in
der Hand, worauf das Liedchen von der Hoff¬
nung geſchrieben war. Er hatte es in der letzten
Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelaſſen,
und ſelbſt wenn er einen Teller Suppe, ſeine
einzige Speiſe, gegeſſen, das Papierchen eifrig
mit dem Loͤffel zuſammen in der Hand gehalten
oder es unterdeſſen in die andere Hand geſteckt.

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[482/0492] wolkenreinen Hoͤhe. Er vermochte aber den lachenden Himmel und das gruͤne Land nicht laͤnger zu ertragen und wollte zur Stadt zuruͤck, wo er ſich in dem Sterbegemach der Mutter ver¬ barg. Die Liebe und Sehnſucht zu Dortchen wachte auf's Neue mit verdoppelter Macht auf, ſeine Augen drangen den Sonnenſtrahlen nach, welche uͤber die Daͤcher in die dunkle Wohnung ſtreiften, und ſeine Blicke glaubten auf dem gol¬ denen Wege, der zu einem ſchmalen Stuͤckchen blauer Luft fuͤhrte, die Geliebte und das verlo¬ rene Gluͤck finden zu muͤſſen. Er ſchrieb Alles an den Grafen; aber ehe eine Antwort da ſein konnte, rieb es ihn auf, ſein Leib und Leben brach und er ſtarb in wenigen Tagen. Seine Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen feſt in der Hand, worauf das Liedchen von der Hoff¬ nung geſchrieben war. Er hatte es in der letzten Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelaſſen, und ſelbſt wenn er einen Teller Suppe, ſeine einzige Speiſe, gegeſſen, das Papierchen eifrig mit dem Loͤffel zuſammen in der Hand gehalten oder es unterdeſſen in die andere Hand geſteckt.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/492>, abgerufen am 30.04.2024.